»Hey, Judy ...«, sang er leise, »don’t be afraid...« Er stellte seine Tasse ins Gras und berührte ihren Arm. »Du solltest von hier wegziehen. Weg von diesem jämmerlichen Paar.«
Sie verschluckte sich fast an ihrem Tee. »Das ist leichter gesagt als getan.«
»Ach, ich weiß nicht. Wenn ich durch Europa reise, werde ich jemanden brauchen, der mir die lästigen Dinge abnimmt und Modell sitzt. Vielleicht nehme ich dich mit.« Und dann küßte er sie. Auf den Mund.
Jetzt schloß Judy die Augen wieder wie gestern bei diesem Kuß. Sie roch die Zedernnadeln und den süßen Ingwer, sie spürte dieselben feuchten Kuchenkrümel an ihren Fingerspitzen und hörte die Amsel singen. Der Kuß hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Und hundert Jahre. An diesen Augenblick werde ich mich ein Leben lang erinnern, schoß es ihr durch den Kopf, aber noch ehe sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, war alles vorbei.
»Ich habe dich gefragt, ob du noch Kaffee willst.«
Judy sah ihre Stiefmutter ausdruckslos an. »Nein, danke.«
»Trevor?«
Keine Antwort. Barbara bediente sich selbst, blätterte die letzte Ausgabe von Country Life durch und warf sie angewidert beiseite. Noch mehr von diesem Schwachsinn, und sie lief in wollenen Strumpfhosen und Schnürschuhen durch die Gegend. Kein Mensch las diese Zeitschrift. Sie wanderte sofort ins Wartezimmer. Barbara beschloß, das Abonnement zu kündigen und dafür eine >pikante< Zeitung zu bestellen. Das würde den Blutdruck der alten Knacker in der Praxis ein bißchen in die Höhe treiben. Sie knabberte an ihrem gebutterten Toast und warf einen verstohlenen Blick auf die Krawatte ihres Mannes. Was für ein Morgen! Erst die Attacke auf das unschuldige Ei und dann auch noch Judy, die aussah, als wäre sie einem Reklameposter von McDonald’s entsprungen. Sie sah auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr - sie mußte nur noch sechs Stunden bis zum nächsten Schäferstündchen warten. Es klingelte.
»Wer, zum Teufel, kommt jetzt, am frühen Morgen?«
»Ich mache auf.« Barbara schlenderte hinaus und kam in Chief Inspector Barnabys Begleitung zurück.
»Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« fragte der Doktor aufgebracht.
»Miss Lessiter?«
»Ja?« Judy stand unbeholfen auf wie ein Schulmädchen.
»Was ist?«
»Ich hätte nur ein paar Fragen an Sie den gestrigen Nachmittag betreffend, wenn Sie gestatten. Wo Sie waren, was ...«
»Es war bereits gestern jemand hier, der nach alldem gefragt hat«, schnaubte Lessiter.
»Ist schon gut«, sagte Judy. »Es macht mir nichts aus, alles noch einmal zu erzählen. Ich war den ganzen Nachmittag hier. Ich hatte frei. Und mein Freund Michael... Michael Lacey war auch hier. Er hat ein paar Skizzen für das Bild gemacht, das er von mir malen will.«
»Können Sie mir sagen, wann die Verabredung getroffen wurde?«
»Ich rief ihn an ...« Barbara Lessiter verdeckte unzulänglich ihr Lächeln mit der Hand. »Und er sagte sofort: >Gerade wollte ich mich bei dir melden.<« Sie warf den beiden Menschen am Eßtisch einen trotzigen Blick zu, der ihre Verletzlichkeit noch offener zutage treten ließ. »Warum ist das so wichtig?«
»Jemand hat ausgesagt, daß Mr. Lacey dabei beobachtet wurde, wie er um vier Uhr nachmittags Mrs. Rainbirds Haus betrat.«
»Nein!« rief Judy erschrocken. »Das ist nicht wahr. Es kann nicht sein. Er war hier mit mir zusammen. Wieso lassen ihn die Leute nicht in Ruhe? Immerzu versuchen sie, ihm Schwierigkeiten zu machen.«
Diesmal machte sich Barbara nicht mehr die Mühe, ihr spöttisches Grinsen zu verbergen. Judy wirbelte herum und deutete auf ihre Stiefmutter. »Sie sollten sich lieber mal mit der da unterhalten. Warum stellen Sie ihr nicht ein paar Fragen?«
»Mir?« Belustigt und erstaunt.
»Fragen Sie sie, wo ihr Pelzmantel ist. Und wozu sie fünftausend Pfund braucht. Fragen Sie sie, weswegen sie erpreßt wird.«
Barbara sprang mit einem wütenden Schrei auf und schüttete Judy ihren Kaffee ins Gesicht. Judy kreischte: »Mein Kleid! Mein neues Kleid!« Doktor Lessiter packte seine Frau und hielt ihre Arme fest. Judy stürzte aus dem Zimmer, und ihr Vater schleuderte Barbara von sich und lief ihr nach. Mrs. Lessiter sank auf den nächsten Stuhl. Eine Weile sagte niemand etwas.
»Also, Mrs. Lessiter?« meldete sich Barnaby schließlich zu Wort. »Weshalb werden Sie erpreßt?«
»Das ist kompletter Unsinn. Ich weiß gar nicht, wie diese dumme Kuh auf so eine absurde Idee kommt.«
»Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß wir eine Menge Unterlagen aus Mrs. Rainbirds Haus sichergestellt haben -Briefkopien und andere Dokumente.« Diesmal dehnte sich das Schweigen noch länger aus. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie mit aufs Revier nehme?«
»Lieber Himmel, nein! Warten Sie ...« Sie ging zur Kommode, nahm sich mit zitternden Händen eine Zigarette und zündete sie an. »Vor etwa einer Woche bekam ich einen Brief von ihr.«
»Einen mit ihrem Namen unterschriebenen Brief?«
»Ja. >Ihre Freundin Iris Rainbird.< Auf ihrem scheußlichen lila Briefpapier, das nach verwelkten Blumen stinkt. Sie schrieb nur, daß sie wüßte, was vor sich ginge, und wenn ich nicht wolle, daß mein Mann all die schlüpfrigen Details erfährt, müßte ich fünftausend Pfund bezahlen. Sie gab mir eine Woche Zeit, das Geld aufzutreiben, und wollte dann wieder mit mir in Kontakt treten.«
»Und warum das alles?«
»Ich habe eine Affäre mit David Whiteley.«
»Ich verstehe.« Barnabys Gedanken arbeiteten fieberhaft. Sie könnte die Frau im Wald gewesen sein (kein bestätigtes Alibi) und David Whiteley der Mann (ebenfalls kein Alibi). In dem Zeitraum, in dem Miss Simpson umgebracht worden war, hatte sie eine Spazierfahrt gemacht. Und sie hätte sich, gerade noch, durch das Fenster in der Speisekammer zwängen können. Er zögerte und überlegte, wie er die nächste, besonders delikate Frage in Worte kleiden sollte, aber sie nahm ihm die Mühe ab, indem sie erklärte: »Wir haben seinen Wagen benützt. Er hat Liegesitze. Er sagte mir, wo er arbeitete. Ich fuhr hin, versteckte mein Auto hinter einer Hecke oder unter Bäumen, und wir kletterten für eine halbe Stunde in seinen Citroën.«
Eins zu null für Sergeant Troy, dachte Barnaby. »Und Sie denken, daß Iris oder Dennis Rainbird Sie bei einer solchen Gelegenheit gesehen hat?«
»O nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Aber einmal... wir hatten uns für drei verabredet, aber Henry hielt ihn den ganzen Nachmittag im Büro auf. Als es fünf Uhr wurde und ich sicher sein konnte, ihn zu Hause anzutreffen, fuhr ich hin.« Barnaby fiel der Eintrag im Notizbuch wieder ein: Mrs. L. fährt mit ihrem Wagen in die Garage von W. Und der rote Stern.
»Wir waren eigentlich übereingekommen, uns niemals bei ihm zu treffen, weil es zu riskant war, aber ich konnte nicht warten, verstehen Sie. Ich mußte ihn haben.« Sie sah Barnaby herausfordernd an. »Ich nehme an, das schockiert Sie.« Barnaby gelang es, eine vorwurfsvolle Miene aufzusetzen. »Und er war genauso schlimm wie ich. Er ließ mich nicht einmal aus dem Auto aussteigen. Danach gingen wir hinauf und fingen noch mal von vorn an.«
An dieser Schilderung war nichts Liebevolles. Sie benutzte nicht einmal den tröstlichen Euphemismus »Liebe machen«. Liebe, so wie Barnaby sie verstand, spielte in diesem Arrangement wahrscheinlich nicht einmal eine Rolle. Er fragte noch, ob sie sich am gestrigen Nachmittag gesehen hatten.
»Ja. Wir trafen uns um halb vier. Er brachte den Mähdrescher weg, deshalb stand uns der Citroën nicht zur Verfügung. Wir mußten uns mit dem Vordersitz meines Honda begnügen. Wir waren ungefähr eine Stunde zusammen, denke ich.«
»Vielen Dank, Mrs. Lessiter, Sie waren sehr kooperativ.« Barnaby drehte sich zur Tür. »Möglicherweise muß ich noch einmal mit Ihnen sprechen.«