Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte. Iris Rainbird hatte Laceys Bilder häßliche, grelle, gewaltsame Machwerke genannt. Barnaby war sich im klaren, daß diese Bemerkung eine gemeine Hoffnung in ihm geweckt hatte, Lacey sei ein talentloser Maler. Diese Hoffnung wurde jetzt zerstört.
Das erste Bild, das er in die Hand nahm, war das Porträt von Dennis Rainbird, und es war umwerfend. Die Farbe schimmerte, als wäre sie ganz frisch. Die Mischung aus Grau und Ockergelb erinnerte Barnaby an klebrigen, feuchten Lehm. Aus der Nähe besehen wirkte das Gemälde unfertig, fast roh, aber wenn man sich ein paar Schritte entfernte, erwachten die Feinheiten plötzlich zum Leben. Dennis trug ein Hemd mit offenem Kragen, dessen Umrisse genau wie die seiner Hände mit dem dunklen Hintergrund zu verschmelzen schienen. Die zarten, vogelgleichen Knochen unterhalb des Halses schimmerten durch die dünne Haut. Die Flächen des Gesichts waren mit dicken gelben Strichen gemalt, die auf wundersame Weise die Illusion von lebendigem Gewebe mit allen Unebenheiten hervorriefen. Der Mund war straff und der Blick nach innen gerichtet und spiegelte die geheimen Gedanken wider. Der Maler hatte viel mehr auf die Leinwand gebracht als Dennis Rainbirds äußere Erscheinung. Er hatte seine Herzensgeheimnisse offenbart. Kein Wunder, daß seine Mutter das Bild verabscheut hatte.
Ein anderes Porträt. Eine alte Frau mit einem Veilchenstrauß. Ihre Augen lagen tief in dem verwitterten braunen Gesicht. Ihr Ausdruck zeigte die Würde des Alters, obwohl ihre Lippen ein unbeschwertes, jugendliches Lächeln umspielte. Dort, wo der Tau noch auf den Veilchenblüten saß, war ein Hauch von Silber zu sehen. Es gab etliche abstrakte Bilder und ein paar Landschaften. Barnaby empfand widerwillige Bewunderung für den Künstler. Jetzt kam es ihm keineswegs mehr eigenartig vor, daß sich Lacey keinen Deut um das schäbige Haus scherte, wenn er all die schönen Bilder im Kopf hatte.
Kornfelder mit Klatschmohn, ein Ufer, über und über mit Wildblumen bedeckt. Zwei dieser Bilder hätten in Miss Simpsons Garten entstanden sein können. Alle waren Meilen entfernt von dem dezenten Naturalismus, den Barnaby und seine Kunstfreunde mit ihren Aquarellen anstrebten. Hier wölbte sich ein metallisch leuchtender Himmel über beinahe farblosen Stränden, Gebäude flimmerten in der Hitze, Gärten quollen über mit üppigen Pflanzen und Blumen; alles in goldenes Licht getaucht. Barnaby lehnte die Bilder an die Wand, und die Sonne schien von den Leinwänden zu strömen und strahlende Muster auf den Holzboden zu malen. Die abstrakten Gemälde waren riesig und schlicht. Dicke weiße Farbschichten und in einer Ecke ein explodierender Stern. Galaktische Ringe von immer intensiver werdender Farbe verengten sich zu einer teerschwarzen Flamme. Barnaby fand auch eine Zeichenmappe - er öffnete sie und zog ein paar Blätter heraus. Skizzen von Judy Lessiter, hastig hingeworfen, aber voller Leben. Dieser Anblick riß Barnaby in die Wirklichkeit zurück.
Er sah sich die Gemälde noch einmal an. Sie schienen keine Geheimnisse zu enthüllen. Nichts deutete darauf hin, daß sie unter Verschluß gehalten werden müßten. Als er zurücktrat, stieß er an die Staffelei. Sie kippte zur Seite, und das Tuch rutschte herunter. Barnaby stellte die Staffelei wieder auf und hängte das Tuch darüber. Plötzlich fiel ihm auf, daß das Bild auf der Staffelei eine andere Form hatte. Er war sicher, daß gestern eine größere Leinwand hier gestanden hatte. Das hieß, daß inzwischen jemand hier gewesen sein mußte und das Bild weggeschafft hatte.
»Bringen Sie Lacey zu mir.«
»Jawoll, Sir«, rief Troy zackig, trabte zur Tür und polterte die Treppe hinunter. »Mitkommen.« Er schloß die Zellentür auf und wies mit dem Daumen in Laceys Richtung. »Bewegen Sie Ihren Hintern. Der Chief Inspector will mit Ihnen reden.« Er sah, daß der Gefangene seine Jacke aufhob. »Und das da brauchen Sie nicht«, setzte er hinzu, »Sie gehen nicht aus.«
Michael Lacey achtete nicht auf den Sergeant, drängte sich an ihm vorbei und lief eilends die Treppe hinauf. Troy holte ihn ein und bemühte sich ärgerlich, wieder Herr der Lage zu werden. Die Polizistin Brierley hatte ihn über den dramatischen nächtlichen Zwischenfall in Kenntnis gesetzt, aber er wußte nichts von Laceys Alibi und war felsenfest davon überzeugt, einen Mörder vor sich zu haben. »Seien Sie bloß vorsichtig, ja?«
Der Häftling setzte sich vor Barnabys Schreibtisch, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und sah sich interessiert um - die Telefonanlage, die Karteikarten und die Fernsehmonitore.
»Also hier spielt sich alles ab. Sehr eindrucksvoll.« Er bedachte Barnaby mit einem selbstbewußten, boshaften Lächeln. »Heute nacht in meinem Bett werde ich sicher besser schlafen als hier. Ich vermute doch, ich kann wieder in meinem eigenen Bett schlafen, oder?«
»Ihr Alibi für die Tatzeit ist zweifelsfrei bestätigt worden, Mr. Lacey.«
Der junge Mann erhob sich. »Also kann ich gehen?«
»Nur noch einen Moment.« Er nahm wieder Platz. »Ich war heute morgen noch einmal in Ihrem Cottage, um die Durchsuchung zu beenden.« Keine Reaktion. Keine Angst. Kein Erschrecken. Nicht einmal Unsicherheit. Der Junge hat seine Haut gerettet, dachte Barnaby. »Ich glaube, daß bei Ihrer Verhaftung eine andere Leinwand auf der Staffelei in Ihrem Atelier stand als heute - es war von einem Tuch verdeckt.«
»Das bezweifle ich. Ich wollte gerade mit einem Porträt von Judy Lessiter anfangen, wie Sie wissen. Ich arbeite nie an zwei Dingen gleichzeitig.«
»Trotzdem hatte ich diesen Eindruck.«
»Dann täuscht dieser Eindruck eben, Chief Inspector. Hat es Ihnen Spaß gemacht, sich bei mir umzusehen? Was halten Sie von den Bildern?« Noch ehe Barnaby antworten konnte, fuhr er fort: »Ich werde es Ihnen sagen: Sie verstehen nichts von Kunst, Sie wissen nur, was Ihnen gefällt.«
Die überhebliche Annahme, daß er nichts anderes als ein plattfüßiger Bulle und spießiger Banause war, brachte Barnaby auf die Palme. »Im Gegenteil. Ich verstehe eine Menge von Kunst, und ich denke, Sie haben ein bemerkenswertes Talent.«
Er beobachtete Laceys Gesicht. All die Streitsucht und Hochnäsigkeit verschwand. Der junge Mann strahlte vor Freude. »Ja, ich hab’ Talent, nicht wahr?« Seine Stimme drückte keinerlei Arroganz aus, nur Stolz und ein wenig Unsicherheit.
»Sie haben eine brillante Technik. Waren Sie auf einer Kunstschule oder einem College?«
»Was?« Er lachte laut los. »Ein Semester... das war genug. Lauter hochgestochene Wichser. Es gibt nur eine Möglichkeit, etwas zu lernen - man muß die großen Meister studieren«, erklärte er ernst. »Ich werde in den Prado gehen. In die Uffizien. Nach Wien, Paris, Rom und New York fahren. Und lernen.« Es entstand eine lange Pause, dann sagte er: »Stimmt etwas nicht, Inspector? Sie sehen so ... so verstört aus.« Da Barnaby nichts erwiderte, stand er auf. »Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt gehe?«
»Was? Oh.« Barnaby erhob sich ebenfalls. »Ja, Sie können gehen.«
Michael Lacey schlenderte zur Tür. »Entschuldigen Sie, Sergeant Troy. Sie sollten den Mund lieber zumachen, sonst fangen Sie sich noch was Scheußliches ein.«
Troy klappte die Kiefer zusammen und starrte die Tür, die sich hinter Lacey geschlossen hatte, fassungslos an. »Warum, zum Teufel, lassen Sie ihn gehen, Sir?«
»Er war den ganzen Nachmittag mit dem Lessiter-Mädchen zusammen.«
»Aber... Mrs. Quine hat ihn gesehen!«
»Sie hat jemanden gesehen, da bin ich sicher. Jemanden, der einen Overall und eine Mütze trug wie Lacey. Die Frage ist nur«, murmelte Barnaby, »warum der Mörder nicht Nägel mit Köpfen gemacht und auch die Kleider im Holly Cottage versteckt hat, wenn er so darauf erpicht war, Lacey die Sache in die Schuhe zu schieben.« Troy begriff, daß sein Boß nur laut nachdachte, und hielt den Mund. »Sie können nicht weit sein. Der Mörder hatte nicht viel Zeit. Mit ein bißchen Glück finden wir die Sachen heute noch. Ich gehe ins Labor und sehe nach, ob es etwas Neues gibt. Ich bin in zehn Minuten zurück. Holen Sie inzwischen einen Wagen, ja? Und nehmen Sie einen Eimer und eine Schaufel mit.« Troy öffnete wieder den Mund. Barnaby drehte sich an der Tür noch einmal zu ihm um und setzte mit einem grimmigen Lächeln hinzu: »Wir fahren an den Strand.«