12
Troy fuhr über die A 21 (Hastings und Saint Leonards) nach Turnbridge Wells und setzte das Gespräch fort, das er bei den komplizierten Auf-und Zufahrten unterbrochen hatte, um keinen Wegweiser zu übersehen. Er und Barnaby hatten über die letzten Berichte aus dem Labor diskutiert.
»Aber diese ... Fasern, die Nylonspuren, die man unter ihren Fingernägeln gefunden hat, deuten die nicht darauf hin, daß sie das Gesicht des Mörders zerkratzt hat?«
»Nicht unbedingt. Wenn Sie sich eine Strumpfhose über den Kopf ziehen, bedeckt nur ein kleiner Teil davon Ihr Gesicht. Das heißt, ein gutes Stück von dem Ding hängt herunter. Vielleicht hat sie das erwischt.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen und stellte sich - nicht zum erstenmal - den schrecklichen Moment vor, in dem Mrs. Rainbirds Besucher aus dem Wohnzimmer verschwand, vielleicht unter dem Vorwand, zur Toilette zu gehen, um wenige Augenblicke später wiederzukommen und mit einem Messer auf sie einzuhacken. Die Tatsache, daß er mittlerweile wußte, wer diese Person war, machte die Szene noch grausiger. Troy kam auf die Funde in der Scheune hinter dem Bungalow zu sprechen.
»Das muß die Decke aus dem Wald gewesen sein, Sir ... die schwarz-grünen Fasern, die in dem Schuppen gefunden wurden.«
»Ziemlich sicher.«
»Ich nehme an, sie dachten, es wäre sicherer, sie im Wasser zu versenken, als sie zu verbrennen. Weniger verdächtig.«
»Vermutlich. Ich habe das Gefühl, sie ist im Weiher in der Nähe des Holly Cottage. Und vielleicht finden wir dort auch die Kleider.«
»Und einer der Rainbirds hat Wind davon bekommen, wem die Decke aus dem Wald gehört, und versucht, Druck auszuüben.«
»Das denke ich auch. Ein ziemlich gefährliches Unterfangen. Miss Simpsons rascher, effizienter Tod hätte sie warnen müssen. >Ein Mörder scheut vor einer zweiten Tat nicht zurück<, Troy.«
»Ist das wieder Jane Austen, Sir?« fragte der Sergeant, während er durch Lamberhurst brauste. »Es kann nicht mehr weit sein... Die Decke muß ziemlich schwer zum Tragen gewesen sein.«
»Ja. Wahrscheinlich hatten sie einen Plastiksack oder eine Mülltonne mit Rädern. Und die Kleider sind sicher auch in dem Sack oder der Tonne verschwunden.«
»Alles ein wenig riskant. Bei hellichtem Tag und so.«
»Ah - aber sie sind in Panik. Die Dinge stehen nicht günstig für sie, Troy. Ihre Zeit läuft ab ... und zwar schnell.« Aus den Augenwinkeln sah er, daß Troy den Kopf zu ihm drehte.
»Was? Wollen Sie damit sagen, daß Sie wissen, wer die Morde begangen hat?«
»O ja.«
»Beide Morde?«
»Alle drei.«
»Aber... das verstehe ich nicht.«
»Passen Sie auf den Verkehr auf, Mann.«
»’tschuldigung, Sir.« Troy konzentrierte sich auf die Straße, nach einer Weile fuhr er fort: »Phyllis Cadell hat Mrs. Trace umgebracht, das ist doch sicher, oder?«
»Ich denke nicht.«
»Aber sie hat doch gestanden! Lieber Himmel, sie hat sich das Leben deswegen genommen.«
Barnaby schwieg, bis sie Saint Leonards erreichten. Als sie sich dem Meer näherten, bat er seinen Sergeant anzuhalten und fragte einen alten Mann mit grauem Schnurrbart nach dem Weg nach De Montfort Close. Troy folgte den Anweisungen des Alten und blieb vor einem weißen Häuschen mit ordentlichem Vorgarten, der sich von denen der anderen Häuser in nichts unterschied, stehen. Barnaby stieg aus und winkte Troy zurück, der Anstalten machte, ihm zu folgen.
»Werden Sie mich nicht brauchen, Sir? Für das Aussageprotokoll?«
»Kaum. Ich verschaffe mir hier nur Hintergrundinformationen.«
Als er allein war, dachte Troy angestrengt über Barnabys rätselhafte Bemerkungen nach. Seiner Meinung nach machte das alles keinen Sinn. Nicht den geringsten. Lacey mußte es getan haben. Das Lessiter-Mädchen deckte ihn. Es war ja nicht zu übersehen, daß sie verrückt nach ihm war. Statt Lacey laufen zu lassen, hätte Barnaby die Kleine wegen Beihilfe einlochen sollen. Genau das hätte er, Troy, getan. Wer, zur Hölle, sollte sonst der Mörder sein? Dennis war in seinem Bestattungsinstitut, Lessiter war im Casa Nova zugange, Mrs. Lessiter und David Whiteley trieben es in dem Honda, Katherine war mit Henry zusammen. Und wenn ein und dieselbe Person beide Morde begangen hatte, dann kam Phyllis Cadell auch nicht in Frage - sie war sicher nicht die Frau aus dem Wald, deshalb hatte sie auch keinen Grund, Miss Simpson zum Schweigen zu bringen. Und zudem (in diesem Punkt gab Troy Barnaby recht) hatte sie glaubwürdig geklungen, als sie den Mord an Miss Simpson abgestritten hatte. Wenn man einen Mord gestand, hatte es wohl wenig Zweck, einen zweiten zu leugnen, oder?
Sie mußte diejenige gewesen sein, die Bella Trace erschossen hatte. Troy strengte sich an, um sich an die Einzelheiten des Zeitungsartikels zu erinnern. Sonst hätte niemand von der Jagdgesellschaft den Schuß abfeuern können, das war bei der Untersuchung eindeutig klargestellt worden. Katherine war im Haus und machte Sandwiches ... also war Phyllis Cadell die einzige ... Moment mal! Troys Gedanken schwirrten in alle Richtungen wie aufgescheuchte Ameisen. Von einer der verdächtigen Personen war nie die Rede gewesen. Wo war Barbara Lessiter, als Bella Trace ums Leben kam? Nicht bei der Jagdgesellschaft (das wäre ein umwerfender Anblick gewesen), aber sie hatte kein eindeutiges Alibi. Und sie hätte die Gelegenheit gehabt, Miss Simpson umzubringen. Und Mrs. Rainbird. Sie war mit ihren Zeitangaben, was ihre Schäferstündchen mit Whiteley betraf, nicht gerade präzise gewesen. Und die Geheimhaltung ihrer Affäre wäre in beiden Mordfällen ein starkes Motiv. Aber Bella Trace, um Himmels willen? Was konnte ihr Tod Barbara Lessiter nützen? Andererseits - warum sollte Phyllis Cadell eine Tat gestehen, die sie nicht begangen hatte? Das machte keinen Sinn.
Troy knirschte mit den Zähnen. Er hatte mit Barnaby die ganze Zeit an diesem Fall gearbeitet. Die Verhöre mitgeschrieben und die Berichte und Analysen aus dem Labor gelesen. Was Barnaby gesehen und erfahren hatte, wußte er auch. Und es machte ihn wütend zu hören, daß sein Boß die Lösung des Rätsels bereits parat hatte. Troy schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett und jaulte auf, weil er sich dabei weh getan hatte. Was hatte er übersehen? Betrachtete er die Dinge aus einem falschen Blickwinkel? Das könnte sein. Er sollte sich eine unorthodoxe Denkweise angewöhnen, eine neue Richtung einschlagen. Ein paar Atemübungen konnten nicht schaden. Er mußte sich beruhigen und noch einmal von vorn anfangen.
Barnaby stand auf der roten Vordertreppe und betätigte den Türklopfer. Eine alte Lady machte ihm auf. Sie sah ihn an und spähte über seine Schulter auf den Wagen. Sie machte einen kummervollen, müden Eindruck.
»Mrs. Sharpe?« fragte Barnaby.
»Kommen Sie herein«, sagte sie und wandte ihr Gesicht ab. »Ich habe Sie schon erwartet.«
Teil Vier
Aufklärung
1
Während der Wagen durch die vornehmen Straßen von Sussex und über Land raste, durchdachte Barnaby nochmals den Fall, den er trotz der anderen Morde immer als Simpson-Fall in Erinnerung behalten sollte. Er war zu einer Lösung gelangt, die er für richtig hielt, und das Puzzle war bis auf ein kleines Teil komplett. Er rief sich die fragliche Szene noch einmal ins Gedächtnis. Er erinnerte sich so lebhaft, daß er fast Wort für Wort wiederholen konnte, was gesprochen worden war. Das Problem war nur, daß dieses kleine Teilchen seine Lösung vollkommen über den Haufen warf. Trotzdem konnte er dieses Detail nicht ignorieren oder so tun, als wäre es nicht vorhanden. Irgendwie mußte es in alles andere eingepaßt werden.