Troy entspannte sich ein wenig, als sie Turnbridge erreichten. Der Mann fährt wirklich gut, dachte Barnaby. Trotz all der Rügen, die er seinem Sergeant wegen seines übertrieben rasanten Fahrstils erteilte, wußte er sein Geschick und Fahrgefühl zu schätzen. Barnaby beobachtete ihn und registrierte, wie oft er die Straße hinter sich im Rückspiegel überprüfte - sein Blick huschte vom Spiegel auf die Straße, von der Straße in den Spiegel, vom Spiegel...
»Das ist es!«
»Sir?« Troy wandte sich für den Bruchteil einer Sekunde seinem Boß zu. Aber Barnaby sagte nichts. Troy, der mit seinen Atemübungen und Grübeleien nicht das geringste erreicht hatte, hakte nicht weiter nach. Auf keinen Fall wollte er dem alten Fuchs die Genugtuung gönnen, altväterliche Belehrungen auf eifrig gestellte Fragen abzugeben und über die erstaunt aufgerissenen Augen seines Untergebenen zu lachen. Ganz bestimmt würde er ihm von selbst alles mitteilen, wenn er die Zeit für gekommen hielt. Bis dahin, nahm sich Troy vor, sollte er eben seine Schlußfolgerungen für sich behalten. »Direkt nach Causton, Sir?«
»Nein«, entgegnete Barnaby. »Ich bin seit halb sechs morgens auf den Beinen und komme um vor Hunger. Wir halten in Reading und essen etwas. Es besteht kein Grund zur Eile.«
An diese Worte sollte er sich später noch lange erinnern. Aber er konnte nicht ahnen, daß eine alte Lady in dem Ort, den sie gerade verlassen hatten, mit tränenüberströmtem Gesicht zum Telefonhörer griff und eine Nummer in Badger’s Drift wählte.
Das Zelt war riesig. Die Seitenwände flatterten und blähten sich, während sich ein halbes Dutzend Männer mit Heringen und Hämmern abmühten, um es zu stabilisieren. Vierundzwanzig Kisten Champagner und zwölf Tische auf Böcken standen neben aufeinandergestapelten Stühlen in der Nähe bereit. Der sorgfältig gepflegte, edle Rasen, der unter den Zeltbahnen von schweren Stiefeln zertrampelt wurde, verströmte bereits den warmen Duft, den man in allen Zelten wiederfindet.
Als Barnaby die Terrassenstufen hinunterstieg, entdeckte er Henry Trace, der zwischen Blumenlieferanten und den Leuten des Partyservice hin-und herrollte, nickte, lächelte, Anweisungen gab und sich bemühte, nicht im Weg zu stehen. Barnaby suchte Katherine Lacey.
»Oh, Chief Inspector.« Henry manövrierte seinen Rollstuhl geschickt über das Steinpflaster. »Wie nett. Sind Sie hergekommen, um uns Glück zu wünschen?« Sein Lächeln verblaßte, als er das Gesicht des Polizisten sah. Er hielt den Rollstuhl in einiger Entfernung an, als könnte der Abstand die Nachrichten irgendwie mildern, die Barnaby mitgebracht hatte.
»Es tut mir sehr leid, Mr. Trace, aber ich habe schlechte Neuigkeiten.«
»Ist es wegen Phyllis? Das weiß ich bereits ... man hat uns angerufen. Ich fürchte, es macht einen gefühllosen Eindruck, daß wir die Feier nicht absagen, aber die Vorbereitungen sind schon so weit gediehen«, er deutete mit einer umfassenden Geste auf das Zelt, »daß ich beschlossen habe...« Seine Stimme brach ab. Die beiden Männer sahen sich lange schweigend an. Entsetzen zeichnete sich auf Henrys Gesicht ab.
Barnaby begann schließlich zu reden, ganz sanft und leise, aber er wußte, daß er die grausamen Worte dadurch nicht erträglicher machen konnte. Troy, der sich immer gewünscht hatte, eines Tages miterleben zu dürfen, wie einer der oberen Zehntausend eine gehörige Abreibung bekam, wandte den Blick von der in sich zusammengesunkenen Gestalt im Rollstuhl ab.
»Können Sie mir sagen, wo sich Miss Lacey im Moment aufhält?« Barnaby wartete, wiederholte die Frage und wartete wieder. Er war drauf und dran ein drittes Mal zu fragen, als Henry Trace kaum hörbar flüsterte: »Sie ist zum Cottage gegangen... Jemand hat angerufen.«
»Was? Hat sie gesagt, wer angerufen hat?«
»Nein. Ich ging ans Telefon... es war eine Frau, ich glaube, sie war sehr aufgeregt. Ihre Stimme klang ziemlich alt.«
»Guter Gott!« Barnaby setzte sich augenblicklich in Bewegung. Troy lief ihm nach. »Lassen Sie den Wagen stehen... querfeldein geht’s schneller.«
Sie nahmen die Abkürzung durch den Garten von Tranquillada, stürmten an dem erschrockenen Constable vorbei, der am Tatort beschäftigt war, und rannten durch das Tor in der Hecke. Barnaby zwängte sich durch die Haselnußbüsche und bahnte sich einen Weg durch den Wald. Er lief wie der Wind und stieß ärgerlich die Steine und Äste beiseite, die ihn behinderten. Troy hörte ihn brummen; »Verdammter Idiot... verdammter, verdammter Idiot!« Da er nicht wußte, wen Barnaby damit meinte oder was er überhaupt vorhatte, rannte er einfach mit.
Henry Trace saß reglos in seinem Stuhl auf der Terrasse. Das geschäftige Treiben um ihn herum ging weiter. Schachteln mit Champagnergläsern und Körbe voller Tischdecken und Servietten wurden an ihm vorbeigeschleppt. Ein hübsches Mädchen in einem pinkfarbenen Overall hängte gerade eine Girlande aus Nelken über dem Torbogen auf. Sie sang bei der Arbeit. Henry schloß die Augen und wappnete sich gegen die nächste Welle des Schmerzes. Sie rollte langsam auf ihn zu, aber gleich darauf schien sie ihn mit aller Gewalt in Stücke zu zerreißen.
»Entschuldigen Sie, Sir.« Pause. »Sir?«
»Ja?«
»Ich habe noch viele Blumengirlanden übrig und dachte, daß sie sich an der Balustrade der Terrasse gut machen würden, man könnte sie dann die Treppe hinunterfluten lassen ...«
Er sah das Mädchen blicklos an, dann das Zelt, das inzwischen mit bunten Fähnchen dekoriert war. Leute liefen hin und her und schrien durcheinander. Die Stühle wurden ins Zelt getragen. Er mußte irgend etwas unternehmen, um diese Dynamik aufzuhalten. Obwohl er zu Gott betete, das alles möge nur ein böser Irrtum sein, wußte er, daß er die Wahrheit gehört hatte. Alles, was Barnaby ihm erzählt hatte, paßte zusammen. Es mußte stimmen. Aber was sollte er jetzt dem Mädchen sagen? Er betrachtete ihr freundliches Lächeln.
»Ja«, sagte er und drehte seinen Stuhl zum Haus, »es wäre hübsch, wenn Blumen über die Treppe fluten würden.«
2
»Gehen Sie in die Küche«, rief Barnaby, »ich sehe oben nach.«
Alle drei Schlafzimmer waren leer und sahen genauso aus wie immer: das kleine mit dem schmalen Bett machte einen unverändert spartanischen Eindruck, das große war chaotisch. Barnaby schaute auch im Schrank nach und war gerade dabei, die große Truhe auf dem Treppenabsatz zu öffnen, als er Troy schreien hörte. Er raste die Treppe hinunter und fand seinen Sergeant im Atelier vor. Troy stand vor der Staffelei und starrte wie betäubt auf das Bild.
»Aber...« Er wandte sich bestürzt seinem Boß zu. »Wer ist das?«
Barnaby warf einen Blick auf die Leinwand. An der Staffelei lehnte ein Umschlag, auf dem stand: »An alle, die es betrifft.« Er schnappte sich das Kuvert und lief aus dem Zimmer. Troy folgte ihm mit hochrotem Gesicht.
Im Flur riß Barnaby den Umschlag auf und überflog hastig die Seiten. Dann stürmte er in die Küche. Etwas, was aussah wie Petersilie, war über den Tisch verstreut.. Und ein modriger Geruch lag in der Luft. Es roch nach Mäusen.
Troy beobachtete unsicher seinen Boß. Der Mann sah aus wie ein geprügelter Hund. Er sank auf einen Stuhl und schüttelte den Kopf, als müßte er quälende Gedanken oder ein lästiges Insekt vertreiben. Dann stand er auf und sah sich benommen um. Er stopfte den Brief in die Tasche und rannte von einem Raum zum anderen. Dabei gab er kein einziges Wort von sich. Troy hatte das Gefühl, daß Barnaby ganz vergessen hatte, daß er auch noch da war. Nichtsdestotrotz blieb er ihm auf den Fersen, als der Chief Inspector aus dem Haus und in den Wald lief. Troy, dem unangenehm bewußt war, welche Wirkung das Gemälde auf ihn ausgeübt hatte, stolperte ihm nach. Barnaby wechselte die Richtung, drehte sich um, lief wieder ein Stück zurück und wandte sich wieder in eine andere Richtung.