Zu spät, zu spät, war alles, was er denken konnte, als er den Wald absuchte. Die wertvollen Sekunden rannen ihm durch die Finger wie silbriger Sand. Bilder zogen an seinem geistigen Auge vorbei: ein Bildschirm mit Zeitanzeige; die Sekundenbruchteile tickten schneller, als es das Auge erfassen konnte. Eine nasale Computerstimme zählte: »Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Null.« Die letzten Körnchen tropften durch ein Stundenglas. Und über allem sah er sich selbst und Troy entspannt am Mittagstisch in Reading sitzen - Vorspeise, Hauptgericht, Käse, Dessert und Kekse, Kaffee - möchten Sie noch eine Tasse, Sir? Warum nicht? Kein Grund zur Eile. Wir haben alle Zeit der Welt. Wo, zur Hölle, war die Stelle? Er versuchte sich zu erinnern, ob es ein besonderes Merkmal gab. Ein Grenzstein vielleicht. Nein - da war nur die Orchidee, mit der alles angefangen hatte, und der Stock mit dem roten Band, aber den hatte man möglicherweise schon vor Tagen entfernt. Es gab nichts...
Gott, diese Parasole an dem Baumstamm hatte er schon einmal gesehen. Verdammt, er war im Kreis gelaufen. Er blieb stehen und nahm nur am Rande wahr, daß Troy an seiner Seite war. In seinem Bewußtsein hatten nur der eigene hämmernde Herzschlag und der intensive Schmerz, den er verursachte, Platz. Sein Jackett war naß vom Schweiß und die Haut in seinem Gesicht von Brombeerdornen aufgerissen. Er schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Er stand ganz still und zwang sich, ruhig nachzudenken.
In diesem Augenblick sah er die üppigen Büschel Nieswurz, und er wußte, wieso ihm die Parasole so bekannt vorgekommen waren. Nur wenige Meter weiter entdeckte er das Gebüsch, das die Mulde abschirmte. Er ging auf die Sträucher zu, seine Schritte verursachten keinen Laut auf dem weichen Waldboden.
Er stand vor der Mulde. Eine große Fläche war platt gedrückt. Glockenblumen und Farnblätter waren geknickt. Katherine Lacey lag in den Armen ihres Geliebten. Sie schmiegten sich aneinander wie Kinder, die in der Wildnis verlorengegangen waren und Trost suchten. Ein Glas war ihr aus der leblosen Hand gefallen. Sie trug ihr Brautkleid aus gestärktem elfenbeinfarbenem Satin. Der Schleier wurde von einem Kranz aus Wildblumen festgehalten. Die reich mit Staubperlen bestickte Schleppe floß wie ein glitzernder Bach von ihren Schultern und verlor sich in der Dunkelheit. Ihre bemerkenswerte Schönheit war selbst im Tod ungetrübt. Während Barnaby sprachlos dastand, schwebte ein großes Blatt von einem Baum und legte sich auf ihr Gesicht. Es glänzte auf der wächsernen Haut und bedeckte ihre blicklosen Augen.
3
»Es ist sehr freundlich, daß Sie mich besuchen, Chief Inspector.«
Barnaby lehnte sich in dem Ohrensessel zurück, ein Teller mit Pflaumenkuchen und ein doppelter Whisky standen in Reichweite neben ihm. »Ganz und gar nicht, Miss Bellringer. Ohne Sie hätte es, wie Sie selbst einmal bemerkten, diesen Fall gar nicht gegeben.«
»Ich hatte das Lacey-Mädchen immer im Verdacht, wissen Sie.«
»Ja.« Barnaby nickte. »Man ist geneigt, die nächstliegende Lösung zu verwerfen, aber meistens ist sie die richtige.«
»Und als Ihnen bewußt wurde, daß sie nicht allein zu Werke ging ...«
»Ganz recht. Dann wurde klar, wie alle drei Morde begangen werden konnten.«
»Die Sache mit Phyllis Cadell betrübt mich sehr. Eine schreckliche Tragödie. Trotzdem verstehe ich nicht alles. Wieso, um alles in der Welt, hat sie eine Tat gestanden, für die sie nicht verantwortlich war?«
»Das ist ziemlich kompliziert.« Barnaby nahm einen Schluck von seinem Whisky. »Und ich muß Jahre zurückgreifen, um das zu erklären. Genaugenommen fing alles in der Kindheit der Laceys an. Erinnern Sie sich an Mrs. Sharpe?«
»An das Kindermädchen? Ja. Die arme Frau. Sie haben ihr das Leben zur Hölle gemacht, glaube ich.«
»Das hat mir Mrs. Rainbird auch erzählt. Offenbar waren die Kinder ein Herz und eine Seele, solange sie klein waren; sie heckten immer etwas aus und standen füreinander ein. Als sie älter wurden, änderte sich alles. Es gab nur noch Zank und Streit. Es war so schlimm, daß die alte Nanny Sharpe, sobald die beiden alt genug waren, um für sich selbst zu sorgen, wegzog, um ein bißchen Frieden in ihrem Häuschen am Meer zu genießen. Ich glaubte diese Geschichte zunächst, denn es gab keinen Grund, sie anzuzweifeln. Und das Verhalten der Laceys machte sie noch glaubwürdiger. Ich selbst hatte einen häßlichen Streit mitangehört. Aber die Unterhaltung mit Mrs. Sharpe vermittelte mir ein ganz anderes Bild.«
Er aß einen Bissen von dem exzellenten, fruchtigen Pflaumenkuchen und spülte mit Whisky nach. Im Geiste saß er wieder auf dem harten Sofa und sah die vielen Fotos von den lächelnden Laceys vor sich. Mrs. Lacey als Kind und junge Frau, Hochzeits-und Tauffotos. Die Kinder in beinahe jedem Alter - immer zusammen und wachsam.
»Sie war die Stärkere«, sagte Mrs. Sharpe. »Sie geriet ihrem Vater nach.«
»Nicht gerade ein umgänglicher Mann, soviel ich gehört habe.«
»Er war schlecht!« Mrs. Sharpes hageres Gesicht lief rot an. »Ich kann mit dem modernen Unsinn, daß Menschen durch irgendwelche Erlebnisse verdorben werden, nichts anfangen. Es gibt Leute, die schon schlecht auf die Welt kommen, und er war einer von ihnen. Er hat meiner armen Kleinen das Herz gebrochen und sie in den Tod getrieben. Sie war ein so liebenswertes Wesen... so freundlich und sanft. Und er hatte andere Frauen ... und dieses raffinierte Ding, mit dem er schließlich auf und davon ist, soll er erst nach Madeleines Tod kennengelernt haben? Das habe ich nie geglaubt und werde es auch nie glauben. Er hat sich die ganze Zeit schon mit ihr herumgetrieben, da bin ich mir ganz sicher.«
»Der Junge war mehr wie seine Mutter, was ?«
»Er verehrte sie. Er hat mir so leid getan. Er versuchte, tapfer zu sein... sie zu beschützen, aber er konnte seinem Vater nicht Paroli bieten. Gerald war ein gewalttätiger Mann... einmal warf er Madeleine ein Bügeleisen nach, und Michael sprang dazwischen. Es traf ihn mitten im Gesicht. Daher hat er die Narbe.«
Barnaby schüttelte den Kopf. »Das wußte ich nicht.«
»Aber Katherine war genau wie ihr Vater. Und er hat sie verlassen - ohne einen Blick zurückzuwerfen. Eine weniger starke Person wäre auf ewig am Boden zerstört gewesen, aber sie... na ja, sie war eben ganz der Vater. Oberflächlich besehen nicht. Er war großtuerisch und gab immer an... sie zog sich eher in sich selbst zurück, aber im Wesen war sie wie er. Launisch und einen eisernen Willen. Und als der Vater weg war, widmete sie Michael ihre ganze Aufmerksamkeit. Und er, der arme Junge, klammerte sich nach dem Tod seiner Mutter verzweifelt an sie. Man hätte nie geahnt, daß er der Ältere war. Sie war Mutter, Vater, Schwester und alles andere für ihn. Manchmal habe ich mich gefragt, was ich überhaupt bei ihnen tat, abgesehen davon, daß sie eine Aufsichtsperson brauchten, weil sie noch minderjährig waren.
Michael fing an zu malen, als er ungefähr vierzehn war. Ernsthaft, meine ich. Er war immer gut im Kunstunterricht, und sie redeten auf ihn ein, daß er ins College gehen soll. Er war auch eine Zeitlang dort, aber dann gab er es auf. Er sagte, dort wären nur Schwachköpfe. Und Katherine stärkte ihm den Rücken. Sie redete ihm ein, er würde mehr lernen, wenn er durch Europa reist, in Galerien, Museen und ähnliches geht. Das würden alle Künstler tun, sagte sie. Jedenfalls ging das so bis kurz vor Katherines siebzehnten Geburtstag. Michael war zwei Monate vorher achtzehn geworden - da begannen die Streitereien. Auseinandersetzungen zwischen Heranwachsenden, dachte ich. Immerzu machten sie sich wegen irgendwas Vorwürfe, und jeden Tag warfen sie sich Schimpfworte an den Kopf. Sie schrie ihn an, er flüchtete aus dem Haus. Und trotzdem, Inspector«, sie beugte sich vor, und ihr Tonfall wurde ganz ruhig, »ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Ich spürte, daß die Zuneigung zwischen ihnen noch genauso stark wie früher war. Die Streitereien erschienen mir irgendwie gekünstelt... unecht.