Auf einem häuften sich noch Kränze und bunte Blumenbouquets, das andere war abgeräumt. Nur eine Vase mit roten, intensiv duftenden Rosen stand unter dem schlichten Kreuz.
EMILY SIMPSON eine liebe Freundin 1906-1987
Barnaby stand eine Weile im Schatten einer Eibe und hörte dem Krächzen der Krähe zu, dann drehte er sich um und eilte davon.
Sie hatten das Abendessen fast beendet. Cully hatte verschiedene Delikatessen mitgebracht. Hühnchen in Weinsauce. Broccoli. Junge Kartoffeln. Wasserkresse. Köstlichen Zitronenkuchen. Und jetzt stand eine Schachtel mit kleinen Florentinern auf dem Tisch, die sie zum Kaffee aßen. Barnabys Magen, hin-und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und Erregung, brummte leise. Cully verteilte den Rest einer Flasche Cotes de Gascogne und erhob ihr Glas.
»Auf euch, Leute.«
»Ich trinke auf Beatrice«, erwiderte Barnaby. Seine Tochter probte gerade das Stück Viel Lärm um Nichts und war glücklich, auch in den großen Ferien in Cambridge bleiben zu können, wenn sie dafür an eine große Theaterrolle kam. In der Wahl ihrer Kleider schien sie ein wenig gemäßigter zu sein, aber immer noch wirkte sie sehr extravagant. Sie trug einen dreiteiligen Herrenanzug aus den fünfziger Jahren - grau mit weißen Nadelstreifen -, und ihr pflaumenblaues Haar war kurzgeschnitten. Ein Monokel steckte an ihrem Revers. Sie wirkte aggressiv, sexy und, wegen ihrer Jugend, ausgesprochen rührend. Barnaby hatte mit Joyce nicht über die Einzelheiten des Simpson-Falles gesprochen - das hatte er sich für die erste gemeinsame Mahlzeit mit Cully aufgehoben. Und sie hatten sich alles höflich, aufmerksam und nachdenklich bis zum Ende angehört. Jetzt kam Joyce noch einmal auf das Thema zu sprechen.
»Ich dachte immer, daß ... derartige Dinge ... ihr wißt schon, was ich meine ... nur in ärmeren Familien Vorkommen.«
»O Ma, sei nicht so heuchlerisch. Wenn du damit die Arbeiterklasse meinst, warum, um alles in der Welt, sagst du es dann nicht? Außerdem stimmt das gar nicht. Es gibt eine ganze Menge Beispiele, wahre und erfundene, dafür, daß es Geschwister aus der Oberschicht miteinander treiben.« Cully knabberte an einem Florentiner. »Genau wie die arme Annabella.«
»Was?« rief Barnaby und stellte vorsichtig seine Tasse auf den Unterteller.
»Wie bitte, heißt das, nicht >was<.«
»Was soll das heißen, die arme Annabella?«
»Annabella aus Tis Pity ... Du weißt schon.«
»Nein, das weiß ich nicht. Klär mich auf.«
»Also wirklich, Dad ... Ich hab’ meine ganze Seele in dieses Stück gelegt... es war meine erste große Rolle ... Tis Pity she ’s a Whore. Du warst da und hast es dir angesehen, und du erinnerst dich nicht mehr daran?«
Doch, jetzt fiel ihm alles wieder ein. Eine abgedunkelte Bühne, plötzlich flackern Fackeln auf. Viel Brokat und stark geschminkte Gesichter wirbeln aus den Schatten. Schreckliche Bilder mit Blut und Tod. Seine Tochter in einem weißen, blutbesudelten Gewand; Dolche bohren sich in lebendes Fleisch. Ein Herz, aufgespießt auf ein Messer. Grauen über Grauen, Tod und Zerstörung, genau wie er es vor kurzem in Mrs. Rainbirds Bungalow gesehen hatte. Und die inzestuöse Leidenschaft von Annabella und ihrem Bruder Giovanni. Barnaby sah wieder den kleinen Bücherstapel auf Miss Simpsons Telefontisch vor sich. Shakespeare, The Golden Treasury. Und die Theaterstücke der englischen Renaissance.
Cully deklamierte verträumt, ihre heisere Stimme vibrierte vor verhaltener Trauer: »Eine Seele, ein Fleisch, eine Liebe, ein Ganzes ...«
Barnaby betrachtete sie mit väterlichem Stolz und Bewunderung. Er nahm seine Tasse wieder in die Hand. »Ja«, sagte er, »genauso ist es.«
Requiem für einen Mörder
Amadeus von Peter Shaffer
Die Venticellis: Clive Everard Donald Everard Salieris Kammerdiener: David Smy Salieris Koch: Joyce Barnaby Antonio Salieri: Esslyn Carmichael Teresa Salieri: Rosa Crawley Johann Kilian von Strack: Victor Lacey Graf Orsini-Rosenberg: James Baker Baron van Swieten: Bill Last Constanze Weber : Kitty Carmichael Wolfgang Amadeus Mozart: Nicholas Bradley Majordomus: Anthony Challis Kaiser Joseph II. von Österreich: Boris Kent Katharina Cavalieri: Sarah Pitt-Keighley Wiener Bürger: Kenny Badel Kevin Latimer Noel Armstrong Alan Hughes Lucy Mitchell Guy Catchpole Phoebe Glover Bühnenbild: Avery Phillips Lichttechnik: Tim Young
Kostüme: Joyce Barnaby
Bühnenmeister: Colin Smy
Regieassistentin: Dierdre Tibbs Regie: Harold Winstanley
Der Vorhang öffnet sich
»Du kannst nun mal keine Kehle durchschneiden, ohne daß Blut fließt.«
»Natürlich nicht, denn genau das erwarten die Leute doch.«
»O Schofield«, murmelte Esslyn geringschätzig, »wie manieriert.«
Die Laienschauspielgruppe Causton Amateur Dramatic Society (CADS) unterbrach die Proben zu Amadeus für eine kleine Pause. Die Produktion stand schon fast. Die Venticel-lis hatten endlich begriffen, wann ihr Einsatz kam, die Kaminwand für Schloß Schönbrunn würde am Wochenende fertig werden, und sogar Constanze schien kurz davor, eine oder zwei ihrer Zeilen auswendig zu können, obwohl sie immer noch nicht so ganz begriffen hatte, in welcher Reihenfolge sie sie aufsagen mußte. Nun war nur noch die blutige Frage zu klären, auf welche Art und Weise sich Salieri am wirkungsvollsten die Kehle durchschneiden könnte. Tim Young, das einzige Mitglied der Truppe, das sich immer noch auf die altmodische Art rasierte, hatte versprochen, an jenem Morgen sein Rasiermesser mitzubringen. Aber bis jetzt war er nicht erschienen.
»Du... ähm... kannst du nicht so ein Ding besorgen, das Blut macht? Ich erinnere mich, beim RSC...«
»Aber sicher kann man so ein Ding besorgen, Dierdre«, entgegnete Harold Winstanley eingeschnappt. (Er reagierte stets ein wenig schroff, wenn jemand in seiner Gegenwart die RSC erwähnte.) »Ich bezweifle, daß hier viele Leute anwesend sind, denen die Tatsache nicht bewußt ist, daß man so ein Ding bekommen kann. Es ist nur so, daß ich mich bemühe, ein klein wenig erfinderisch zu sein... und versuche, von der eingefahrenen Routine abzuweichen. Comprenez?« Er ließ seinen Blick über die versammelte Truppe gleiten, um Bewunderung dafür zu erheischen, daß sein Gesicht trotz dieser sichtlich geistlosen Frage den Ausdruck übermenschlicher Geduld beibehalten hatte. »Und da wir gerade von Routine sprechen, wird es nicht langsam Zeit für den Kaffee?«
»Oh, ja, gewiß, Entschuldigung.« Dierdre Tibbs, die auf der Bühne saß und in einer fast mädchenhaften Weise ihre kordbekleideten Knie umschlungen hielt, stand auf.
»Na, mach schon, los.«
»Wenn du glaubst, Schofield wäre manieriert«, bemerkte Donald Everard und nahm damit Esslyns verächtliche Äußerung auf, »wie steht es dann mit Simon Callow?«
»Mit Simon Callow?« echote sein Zwillingsbruder.
Dierdre ließ sie erleichtert allein ihre schmutzige Wäsche weiterwaschen und lief durch den Gang zum Vereinsraum. Dierdre war offiziell Regieassistentin. In einigen Dutzenden früherer Produktionen war sie das Mädchen für alles gewesen, bis sie sich vor ein paar Wochen mit süßem Martini Mut angetrunken hatte, um dann voller Schüchternheit das Komitee der CADS um eine Beförderung zu bitten. Zu ihrer Freude hatten sie zu ihren Gunsten entschieden, wenn auch nicht ohne Gegenstimmen. Aber die Freude währte nur kurz, denn es sah so aus, als sei ihre Rolle, zumindest was den derzeitigen Stand des Stückes am Latimer anging, um nichts besser als bei vorangegangenen Produktionen, denn Harold ließ über Fragen der Regie keine Diskussion aufkommen (jedenfalls waren das seine Worte), und ihre wenigen vorsichtigen Anmerkungen wurden ignoriert oder einfach in den Boden gestampft.