»Ich werde es versuchen, Harold.« Kittys Stimme zeichnete sich durch ein leichtes Lispeln aus. Und ihre Ds waren beinahe Ts. Diese niedliche Färbung sowie die zerzausten blonden Locken, die zarte Pfirsichhaut und der übertriebene Schwung ihrer Oberlippe schufen eine Art kindlichen Charme, der so anziehend wirkte, daß die Leute kaum bemerkten, in welchem Gegensatz all das zu dem harten Glanz in ihren azurblauen Augen stand. Wenn sie sprach, hob und senkte sich ihr köstlicher Busen eine Spur schneller, ganz so, als signalisierte sie damit, daß sie mehr denn je gefallen wolle.
Harold sah sie streng an. Es war ihm schon immer ein komplettes Rätsel gewesen, wie jemand, der zur CADS gehörte, sich nicht in jedem wachen Moment seines Lebens um das kümmerte, was in der laufenden Produktion vor sich ging. Indem man rund um die Uhr im Theater anwesend war und auch während der Zeiten seiner Abwesenheit an nichts anderes als an das Stück dachte. Avery hatte einmal völlig zutreffend festgestellt, daß ihnen Harold, wenn es in seiner Macht stünde, sogar befehlen würde, vom Latimer zu träumen. Und ausgerechnet Kitty, sagte sich Harold jetzt, hatte die meiste Zeit von allen. Er fragte sich, womit sie sich wohl den ganzen Tag lang beschäftigte, und bemerkte dann, daß er sich diese Frage wohl laut gestellt hatte. Kitty senkte jedenfalls beschämt die Augen, so als enthielte die Bemerkung etwas Anzügliches.
Dierdre begann, die Becher einzusammeln. In einigen befand sich zwar noch etwas Kaffee, aber niemand bestand hier auf eine volle Ration. Als sie Kittys Becher an sich nahm, sah sie woandershin, denn Esslyn hatte inzwischen aufgehört, den Hals seiner Frau zu liebkosen, statt dessen seine Finger in den Ausschnitt ihrer Bluse geschoben und fummelte beinahe geistesabwesend an ihr herum. Rosa Crawley entging diese gefühllose Geste ihres Ex-Ehemannes nicht, und sie wurde rot, ein häßliches Puterrot. Harold, der wie immer die Dramen, die sich hinter der Bühne abspielten, nicht wahrnahm, rief seinem Lichttechniker zu: »Wo zum Teufel ist Tim?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das solltest du aber wissen. Du lebst schließlich mit ihm zusammen.«
»Das Zusammenleben mit jemandem«, entgegnete Avery, »verleiht einem keine parapsychischen Kräfte. Als ich weggegangen bin, hat er sich gerade um die Bestellung von Faber gekümmert und gesagt, er bräuchte bloß noch eine halbe Stunde. Daher bin ich genauso schlau wie du.« Obwohl Averys Stimme fest klang, nagten panische Ängste an ihm. Es war ihm eine schier unerträgliche Vorstellung, nicht zu wissen, wo Tim war, was er tat und mit wem er es tat. Jede Sekunde, die er mit einem Mangel an diesen lebensnotwendigen Informationen verbringen mußte, kam ihm wie ein Jahr vor. »Und erwarte bloß nicht von mir, daß ich länger bleibe«, fügte er hinzu. »Ich habe eine Daube im Ofen.«
»Daubes müssen lange köcheln«, erwähnte die Garderobiere. Glücklicherweise war Tom Barnaby nicht anwesend, denn sonst hätte er sich sehr über die Art gewundert, in der sich seine Frau, deren kulinarische Katastrophen von Mal zu Mal schlimmer wurden, mit einem Mann auf eine Stufe stellte, dessen Kochkünste legendär waren. Sämtliche Mitglieder der CADS hatten sich schon auf jede erdenkliche Weise darum bemüht, von Avery eine Einladung zum Essen zu ergattern. Jene, die erfolgreich gewesen waren, hatten in den nächsten Wochen an ihren bescheidenen Tischen gesessen und ihren Triumph immer wieder erneuert, indem sie in kleinen Mengen, immer nur krümelweise, damit sie lange davon zehren konnten, gastronomische Erinnerungen preisgaben.
Jetzt erwiderte Avery spitz: »Auch nach langem Köcheln muß ein Gericht genau zum richtigen Zeitpunkt abgestellt werden, Joyce, mein Liebling. Der Grad zwischen einem wunderbaren, in sich harmonischen Eintopf, bei dem jede einzelne Zutat zwar immer noch für sich steht, aber auch in einer perfekten Beziehung zu dem Ganzen, und einem einzigen Reinfall, ist tatsächlich sehr schmal.«
»Ein bißchen wie bei einer Theaterproduktion«, sinnierte Nicholas und bedachte seinen Regisseur mit einem gewinnenden Lächeln, das jede Autorität untergrub. Das Lächeln entging Harold nicht, aber da er den subversiven Gehalt darin übersah, nickte er gespreizt.
»Gut...« Colin Smy stand auf und nahm eine gewichtige Haltung ein, so als wollte er damit sowohl seine Bedeutung als auch den Unterschied zwischen ihm und den übrigen Darstellern herausstreichen. »Einige von uns haben zu arbeiten.« Er rückte seine Banderilla zurecht und ließ der Truppe Zeit, seine Worte in vollem Umfang zu verdauen. Er stand stämmig auf seinen leicht gebogenen Beinen, die in Jeans steckten, trug ein kariertes Hemd und hatte krauses, drahtiges Haar, das sehr kurz geschnitten war. Hier und da stand es in Büscheln ab, die, in Verbindung mit einer großen Portion geballter Energie, den Eindruck hinterließen, man hätte es, wie jemand mal gesagt hatte, mit einem scharfen Foxterrier zu tun. Jetzt verschwand er in der Kulisse und rief pointiert über seine Schulter zurück: »Wenn ihr mich sucht, könnt ihr mich in der Werkstatt finden. Da ist einiges los, falls es jemanden interessiert.«
Es schien jedoch niemanden zu interessieren, und das Hämmern, das kurz darauf nicht zu überhören war, blieb betrüblicherweise unbeachtet. Über ihren Köpfen drehte Dierdre das heiße Wasser auf, schrubbte die Kaffeetassen und knallte sie dabei verärgert gegeneinander, so daß noch ein paar Bröckchen mehr von ihnen absplitterten. Keiner von den anderen hatte sich jemals blicken lassen, um ihr zu helfen, außer David Smy, der des öfteren im Vereinsraum wartete, um seinen Vater abzuholen und ihn nach Hause zu fahren. Dierdre wußte, daß dieses Los ihre eigene Schuld war, weil sie nicht schon längst energisch durchgegriffen hatte, was sie nur noch wütender machte.
»Also gut, ich denke, "Wir sollten Tim noch weitere fünf Minuten geben«, schlug Kaiser Joseph vor, der im Parkett thronte, »und dann weitermachen.«
»Das sieht dir ganz ähnlich«, antwortete Esslyn, »aber ich habe keine Lust weiterzumachen, solange die praktischen Probleme nicht gelöst sind. Natürlich könnte ich auch sagen, diese Dinge hätten alle bis zur letzten Sekunde Zeit...«
»Wohl kaum bis zur letzten Sekunde«, warf Rosa ein.
»...aber ich bin es nun einmal, der dort draußen vor den vollen Rängen steht.« (Jeder scheint hier zu glauben, wir würden im Barbicane-Theater auftreten, dachte Nicholas bei sich.) »Eine Rolle von diesem Umfang ist weiß Gott schon schrecklich genug.« (Weshalb hast du sie dann angenommen?) »Aber Salieris Selbstmord ist nun mal der Höhepunkt des Stücks. Wir müssen es nicht nur richtig hinkriegen, sondern eine geradezu brillante Darbietung liefern.«
Nicholas, der stets Mozarts Tod für den Höhepunkt des Stücks gehalten hatte, meinte: »Warum nimmst du nicht einen elektrischen Rasierer?«
»Um Himmels willen! Wenn das die Art ist...«
»Schon gut, Esslyn, reg dich ab«, beruhigte Harold seinen verärgerten Star. »Also, ehrlich, Nicholas...«
»Entschuldige.« Nicholas grinste. »Entschuldige, Esslyn, das sollte bloß ein Witz sein.«
»Totgeboren, Nico«, entgegnete Esslyn hochmütig. »Wie alle deine Witze. Um gar nicht erst davon zu reden...« Er vergrub seine Lippen in den goldenen Locken, die sich sanft um Kittys Hals rankten, und der Rest des Satzes ging verloren. Trotzdem ahnte jeder, was er vielleicht gesagt haben könnte...
Nicholas wurde weiß. Einige Momente lang erwiderte er nichts, doch dann begann er, wobei er mit einer übertrieben ruhigen Stimme sprach und dabei jedes seiner Worte mit Sorgfalt wählte: »Es sieht vielleicht nicht ganz so aus, aber auch mir bereitet dieses Problem Sorgen. Denn schließlich kann es gut sein, daß die ganze Geschichte am Ende unheimlich stümperhaft wirkt, wenn Esslyn nicht genug Zeit hat, um zu lernen, wie er mit der entscheidenden Requisite umzugehen hat.« Darauf folgte ein Crescendo von beifälligem Murmeln und angehaltenem Atem. Harold stand auf und fixierte seinen Mozart mit Kaninchenaugen.