»Dieses Wort wirst du nie wieder in meiner Gegenwart benutzen, Nicholas... ist das klar? In meinen Produktionen wird es niemals etwas Stümperhaftes geben.«
In dieser kühnen Zurückweisung des Adjektivs sprang Harold ein wenig gar zu ökonomisch mit der Wahrheit um. Die gesamte Truppe war stolz auf das, was als ihr professioneller Standard angesehen wurde, aber sowie auch nur ein Hauch ablehnender Kritik zu hören war, waren sie nur noch Amateure, von denen die meisten Vollzeitarbeitsplätze hatten, weshalb es wirklich ein Wunder war, daß jeder noch die Zeit fand, überhaupt seinen Text zu lernen, bloß um ein Stück auf die Beine zu stellen. Wieder war aus Nicholas’ Gesicht alle Farbe gewichen, und er schien sich seiner Grobheit zu schämen. Aber ehe er auch nur den Mund öffnen konnte, um den Fauxpas bei seinem Publikum wiedergutzumachen, ging die Tür auf, und Tim Young erschien. Er kam in einem dunklen Crombie-Überzieher und einem Borsalino rasch auf sie zu, ein großer Mann, der ein kleines Päckchen in der Hand trug.
»Entschuldigung, ich bin spät dran.«
»Wo bist du denn gewesen?«
»Der Papierkram schien ewig zu dauern... und dann hat auch noch das Telefon geklingelt. Du weißt ja, wie das ist.«
Tim verteilte seine Antwort mehr über die ganze Gruppe, als daß er sie direkt an Avery gerichtet hätte, der daraufhin fragte: »Wer hat angerufen?«
Tim schlüpfte aus seinem Überzieher und begann, das Päckchen zu öffnen. Jeder sah zu. Es war sehr sorgfältig verpackt. Zwei Lagen dünnes braunes Papier, dann zwei aus weichem Tuch. Schließlich wurde das Rasiermesser sichtbar. Tim klappte die Klinge auf und legte das Messer quer über seine Handfläche.
Es war ein wunderschönes Messer. Der Griff war ein eleganter Bogen aus Elfenbein, in den mit goldenen Lettern eingraviert war: E.V. Bayars, Master Cutler. (C.A.P.S.) Um diese Inschrift herum wand sich ein Kranz aus Akanthusblättern mit winzigen Blüten, die in Perlmutt eingelegt waren. Die andere Seite war bis auf drei kleine Nieten glatt. Die Klinge, deren Schneide tödlich scharf gewetzt war, blinkte und glänzte.
Esslyn, dem jetzt aufging, warum Tim das Messer mitgebracht hatte, sagte: »Sieht aber ganz schön scharf aus.«
»Das muß es auch«, rief Harold. »Die dramaturgische Wahrhaftigkeit ist von allergrößter Bedeutung.«
»Absolut«, sekundierte Rosa, etwas gar zu schnell, wie einige dachten.
»Ich gebe einen Koboldfurz auf eure dramaturgische Wahrhaftigkeit«, entfuhr es Esslyn, dann streckte er die Hand aus und nahm die Klinge mit spitzen Fingern. »Wenn ihr glaubt, ich lasse diese Klinge näher als zehn Zentimeter an meinen Hals heran, dann liegt ihr aber falsch.«
»Hast du eigentlich jemals etwas vom Herz eines Mimen gehört?« fragte Harold.
»Ja, ich habe vom Herz eines Mimen gehört«, antwortete Esslyn, »aber auch von Herzen der Marke Jack the Ripper, von Sweeney Todd und vom Tod durch einen schrecklichen Unfall.«
»Ich werde mir bis zur nächsten Probe etwas einfallen lassen«, kündigte Harold zuversichtlich an. »Hab keine Angst. Pack es jetzt erst mal wieder ein, Tim. Ich möchte gern mit Akt zwei weitermachen. Dierdre?« Pause. »Wo steckt die denn nun schon wieder?«
»Ich glaube, sie spült«, sagte Rosa.
»Himmelherrgott noch mal. Ich könnte den Abwasch eines Viergängemenüs in einem Zwanzigstel der Zeit erledigen, die sie für ein halbes Dutzend Tassen braucht. Also gut... an die Arbeit. Phoebe, du gehst besser wieder an das Skript.«
Alle verteilten sich daraufhin über die Kulisse und die Garderoben, außer Esslyn, der immer noch gedankenverloren die Klinge musterte. Harold trat an seine Seite. »Pas de problème«, meinte er. »Du mußt dich nur daran gewöhnen, das ist alles. Sieh mal, ich zeige es dir.«
Er nahm das wunderschöne Objekt und schob die Klinge zurück in den Schaft. Plötzlich klappte das Rasiermesser mit einem scharfen Klick zusammen. Harold gab einen kurzen warnenden Zischlaut von sich und Esslyn einen längeren besorgten Laut.
»Sieht nicht so aus, als könnte ich das wesentlich besser als du«, rief Harold und bedachte Esslyn mit einem verkrampften Lächeln. Dann legte er das Messer hin und nahm väterlich den Arm des anderen Mannes.
»Was ist, hast du jemals erlebt, daß ich nicht in der Lage gewesen wäre, ein verzwicktes Produktionsproblem zu lösen? Hm? In all unseren gemeinsamen Jahren?«
Esslyn antwortete mit einem besorgten Blick, der voller Zweifel war. »Glaub mir«, sagte Harold und dehnte jedes seiner Worte, die er alle in gleicher Weise betonte, um die ganze Kraft seiner Überzeugung hineinzulegen. »Du bist in sicheren Händen. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müßtest.«
Er brachte das mit uneingeschränkter Aufrichtigkeit hervor, aber sein Vertrauen war tragischerweise unangebracht. Die Rädchen griffen nämlich bereits ineinander. Und Pläne waren schon geschmiedet, von denen er zu diesem Zeitpunkt absolut keine Ahnung hatte.
Dramatis Personae
Nicholas lag auf dem Boden seines Zimmers über der Blackbird-Buchhandlung und praktizierte seine Cicely-Berry-Stimmübungen. Das tat er ausnahmslos jeden Morgen und jeden Abend, ganz gleich, wie spät er aufgestanden oder ins Bett gegangen war. Jetzt war er bei den Lippen-und Zungenübungen angelangt, und Ratatat-Töne füllten den Raum. Glücklicherweise hatten seine Nachbarn (Brown, der Begräbnisredner, auf der einen Seite und auf der anderen ein Metzger) es längst aufgegeben, sich über den Lärm zu beklagen.
Nicholas war neunzehn Jahre alt und in einem Dorf zwischen Causton und Slough aufgewachsen. In der Schule hatte man ihn als knapp über dem Durchschnitt eingestuft. Ganz gut im Sport, mäßig im Unterricht und, da er mit einem freundlichen Wesen gesegnet war, auch einigermaßen talentiert darin, sich Freunde zu machen. Als er in der Abschlußklasse anfing, sich vage Gedanken über seine Zukunft in einer Bank oder im Industriemanagement zu machen, geschah etwas, was sein Leben für immer veränderte.
Einer der Texte, die er für seine Abiturprüfung in Englisch lesen mußte, war der Sommernachtstraum. Eine Vorstellung des Stücks, gespielt von der Royal Shakespeare Company, sollte auf dem Gelände der Gesamtschule, die Nicholas besuchte, gegeben werden. Innerhalb von zwei Tagen nach der Bekanntgabe des Termins war die Vorstellung ausverkauft. Einige aus der Abschlußklasse gingen hin, Nicholas allerdings eher aus Neugier als wegen irgend etwas sonst. Er war vorher noch nie im Theater gewesen, und über die Schauspielerei wußte er genausoviel wie über Landwirtschaft, Kohleabbau oder Tiefseefischerei. Es war ihm auch nie bewußt gewesen, daß das ein Handwerk war, das man lernen, kultivieren und ausüben konnte.
Als er am Aufführungsort ankam, schienen sich die Leute zu Hunderten durch die Schule zu schieben, und die Turnhalle war wie verwandelt. Da standen Podeste und Treppen, es gab Tapeziertische, grünen Kunstrasen und sogar einen Metallbaum mit goldenen Äpfeln. Über den Boden verteilt lagen riesige Kissen, die aus Teppichstücken zusammengesetzt worden waren. Fünf Musiker saßen auf einem Sprungpferd. Über ihnen befand sich ein kompliziertes Metallgitter mit Dutzenden von Strahlern. Dann bemerkte Nicholas am anderen Ende der Halle auf einem Podium einen stämmigen Mann in Abendgarderobe mit einem breiten roten Band quer über der Brust, das ein juwelenbesetzter Stern und Orden schmückten. Er unterhielt sich mit einer Dame in einem dunkelgrünen Turnürenkleid, die Diamantohrringe und eine kleine Krone trug. Plötzlich streckte der Mann seinen Arm aus, sie legte ihre behandschuhte Hand auf seinen Unterarm, und gemeinsam schritten beide die Plattform hinab. Die Lichter strahlten weiß und hart, und das Stück begann.
Im selben Moment war Nicholas gebannt. Der Schwung, der Einsatz und die intensive Nähe der Darsteller raubten ihm den Atem. Die leuchtenden Farben der Kostüme, die durch die Schnelligkeit der Bewegungen und den Tanz der Schauspieler flirrten, verwirrten ihn. Er sah sich einem Ansturm mächtiger Gefühle ausgesetzt, die sich jeder Analyse entzogen und rasant wechselten. Noch nie hatte er eine so starke Sympathie für Helena empfunden wie in dem Moment, als er über ihre unverhältnismäßige Wut lachen mußte, und die Szene zwischen Titania und Zettel war so sinnlich, daß er fühlte, wie sein Gesicht glühte.