Nicholas lernte seine wenigen Zeilen rasch, war stets als erster Schauspieler bei den Proben und ging als letzter. Er kaufte sich einen billigen Kassettenrecorder und feilte an einem amerikanischen Akzent, wobei er die belustigten Blicke, die einige der anderen Schauspieler miteinander austauschten, ignorierte. Er erstellte eine ganze Geschichte für seine Rolle, hörte zu und reagierte mit gespannter Konzentration auf alles, was um ihn herum auf der Bühne vor sich ging. Lange vor der Premiere konnte er schon an nichts anderes mehr denken. Als es dann soweit war und er in der überfüllten Garderobe mit zittrigen Händen zuviel Make-up auflegte, wurde ihm auf einmal bewußt, daß er seine Zeilen vergessen hatte. Verzweifelt suchte er das Buch, kritzelte seine Sätze auf ein Blatt Papier und steckte es in den Bund seiner handgesponnenen Hose. Während er in den Kulissen wartete, überkam ihn auf einmal ein Anfall von Übelkeit, und er übergab sich neben dem Feuerlöscher.
Als er schließlich auf die Bühne trat, traf ihn das Entsetzen mit der Kraft eines Orkans - Reihen von Gesichtern verschwammen in seinem Blickfeld. Er blickte noch einmal hin und dann wieder fort. Er sprach seine erste Zeile. Die Strahler brannten, aber ihm war durch das Hochgefühl und die Aufregung zugleich eher kühl, und als eine Zeile nach der anderen bis zur letzten, so, wie er sie brauchte, in sein Gedächtnis zurücksprangen, machte er zum ersten Mal die Erfahrung dieses seltsamen doppelten Bodens, der einen Schauspieler immer in der Realität hält. Ein Teil von ihm glaubte sich in Proctors Küche in Salem, mit den eisernen Töpfen und Pfannen, den armseligen Möbeln und den verängstigten Menschen, ein anderer Teil von ihm war sich aber auch dessen bewußt, daß ein Hocker an den falschen Platz gerückt worden war und John Proctor immer noch so vor seiner Frau stand, daß niemand sie sehen konnte, und daß Mary Warren ihre Kappe vergessen hatte. Hinterher im Vereinsraum machte er die Erfahrung warmherziger, enger Kameradschaft (»Das Spiel zu enden, begrüßt uns mit gewog’nen Händen«), die vorübergehend jedes derzeitige Mögen oder Nichtmögen innerhalb der Gruppe zu überwinden schien.
In der Pantomime spielte er die hinteren Beine eines Pferdes, und dann wurde ihm die Rolle des Danny in Die Nacht muß kommen angeboten. Die Proben begannen sechs Wochen vor seinem Abitur, und er wußte, daß er durch die Prüfung fallen würde. Das ewige Gemurre, das seit Monaten bei ihm zu Hause herrschte, weil er soviel Zeit im Latimer verbrachte, entlud sich in einem heftigen Streit, und er ging fort. Fast gleichzeitig bot Avery ihm das kleine Zimmer über der Blackbird-Buchhandlung an. Es kostete ihn keine Miete; statt dessen wischte er jeden Morgen im Laden Staub und putzte einmal pro Woche Averys Haus.
Nun wohnte er schon seit fast einem Jahr hier und lebte (manchmal vorzüglich) von Averys Resten, meistens von gebackenen Bohnen aus der Dose, die er vom Supermarkt, in dem er arbeitete, mitbrachte. Fast sein gesamter Lohn ging für Stimmbildungs-und Bewegungslehrgänge drauf - er hatte einen hervorragenden Lehrer in Slough entdeckt - und für Theaterkarten. Einmal pro Monat fuhr er per Anhalter nach London, um sich ein Stück anzusehen, weil er hoffte, seinen Akku durch gelegentliche Injektionen von dem, was er für das Wahre hielt, aufzuladen. (Nach einer außerordentlichen Vorstellung von Die lustigen Weiber von Windsor im Barbican, entschloß er sich, epikuräische Rede für seinen Vor-sprechtermin zu lernen.)
Er wußte immer noch nicht, ob er gut war. Brenda Leggat, die erste Cousine der Smys, schrieb in einer lokalen Zeitung über die Produktionen der CADS, und ihre Erkenntnisse waren genauso originell wie ihre Prosa. Jede Komödie war spritzig, jede Tragödie herzergreifend. Und Vorstellungen, die wirklich mal nicht in dieses Raster paßten, waren dann zumindest eine Mischung aus allem, was wir von einem Schauspieler/einer Schauspielerin/einer Soubrette/der Naiven/der gesamten Getränkebar erwarten dürfen. Auch die Gruppe durchschaute Nicholas bald gut genug, um zu wissen, daß jede direkte Frage zu seinen Auftritten entweder mit einlullenden Bemerkungen oder übersprudelnden Bestätigungen beantwortet wurde. Im Vereinsraum wurde viel über abwesende Freunde gesprochen, aber es war fast unmöglich für einen Darsteller, eine ehrliche Meinung ins Gesicht gesagt zu bekommen. Jeder außer Esslyn und den Everards (und natürlich Harold) erklärte Nicholas, er sei wunderbar. Harold lobte ohnehin sehr selten (er bemühte sich, sie alle an der kurzen Leine zu halten), und wenn, dann nur zu den Premierenabenden, an denen er sich wie ein Broadway-Impresario aufführte, sich hysterisch gab, jeden küßte, Blumen verteilte und sich sogar eine theatralische Träne abrang.
Nicholas beendete seine Übungen, dehnte und streckte sich, atmete einige Male tief durch, zog sich aus, putzte die Zähne, stieg ins Bett und versank sofort in einen tiefen Schlaf.
Er träumte von der Premiere von Amadeus, und er stand, ganz in Schwarz gekleidet, mit gekräuselten Trikothosen und einem Totenschädel unter dem Arm, in den Kulissen, weil er die Rolle des Hamlet gelernt hatte.
Rosa Crawleys Ehemann war aufgeblieben. Er hatte den Abend mit einigen befreundeten Rotariern und ihren knitterfreien Ehegattinnen im Caps and Bells verbracht. Er versuchte stets, vor seiner Frau nach Hause zu kommen, nicht nur, weil sie es haßte, das Haus leer vorzufinden, sondern vor allem, weil er sich darauf freute, die Fortsetzung der Saga vom Theatervolk zu hören, mit der sie fast in derselben Minute begann, in der sie zur Tür hereinkam. Sie begleitete ihn natürlich nie in einen Pub, und Ernest sonnte sich ein bißchen in ihrer Abwesenheit, weil er wußte, daß seine Kameraden erkannt hatten, wieviel exquisite Interessen seine Frau zu bieten hatte.
Heute abend war er nur wenige Minuten vor ihr nach Haus gekommen und hatte sich gerade seinen Kakao gemacht, als sie kam. Ernest schüttelte die Sofakissen auf, goß einen doppelten Scotch mit Eis ein, damit sich seine Frau entspannen konnte, und lehnte sich mit seinem eigenen Getränk in der Hand zurück, wobei sein Gesicht vor Erwartung leuchtete.
Rosa nippte an ihrem Whisky und beobachtete Ernest ein wenig neidisch dabei, wie er die gekräuselte Haut auf seinem dampfenden Kakao zur Seite schob. Manchmal, besonders an Abenden wie diesem, hätte sie eine Tasse Kakao vorgezogen, aber sie hatte das Gefühl, das wäre bestimmt (abgesehen von Slippery Elm Food) das gewöhnlichste Getränk auf der ganzen Welt. Wenn sie eines Abends damit anfangen würde, Kakao zu schlürfen, wäre das wohl der erste Schritt auf dem schleichenden Weg in eine behäbige Gemütlichkeit und käme im Grunde einer offiziellen Beitrittserklärung zum Verein der Leute in den mittleren Jahren gleich. Als nächstes würde sie dann wahrscheinlich in einem warmen Bademantel und im Unterrock herumlaufen. Rosa zog ihre hochhackigen Schuhe aus und massierte sich die Füße. Die Schuhe lagen da, das Oberleder nach unten, und die spitzen, zehn Zentimeter hohen Absätze ragten in die Luft.
Sie war eine kleine Frau, kaum größer als einen Meter fünfzig, von zigeunerhaftem Typ, den sie in ganz extremer Weise betonte. Ihr schwarzes Haar war von einer gleichmäßigen Intensität, ihre schönen dunklen Augen von Kajal umrahmt und mit einer doppelten Reihe falscher Wimpern dekoriert, während ihre kupferne Gesichtsfarbe vom Wind über der Heide und einem vorbeiziehenden Stern erzählte. Ihre Nase war zwar länger, als ihr lieb war, aber sie schlug auch daraus Kapital, indem sie durchblicken ließ, daß die Ursache dafür in der besonders tragischen Geschichte eines jüdischen Emigranten zu suchen sei. Eine Vorstellung, die vor allem ihre Großeltern, sture angelsächsische Bauern aus Lincolnshire, entsetzt hätte. Sie nährte diese undurchsichtige semitischzigeunerhafte Herkunft, indem sie dunkle Kleidung mit derart funkelnden Accessoires trug, daß diese eher wie ein Feuerwerk und weniger wie modische Zutaten wirkten.