Sie sah Ernest dabei zu, wie er geduldig an seiner Tasse nippte, und einmal mehr wunderte sie sich darüber, daß sie mit ihm verheiratet war. Es war für sie niemals in Frage gekommen, nach ihrer Scheidung von Esslyn solo zu bleiben. Das ging gegen ihren Stolz, und abgesehen davon, konnte sie es nicht aushalten, länger als fünf Minuten allein zu sein. Sie hatte geglaubt, in Anbetracht ihres Aussehens und ihrer Ausstrahlung kämen die Männer nur so in Scharen angelaufen, wenn erst einmal bekannt würde, daß sie zu haben war. Aber Ernest Crawley, hiesiger Bauunternehmer und gemütlicher Witwer, war der einzige ernsthafte Freier.
Er war ein entzückender Mann, der seinen Platz kannte, und schon als er ihr das erste Mal einen Heiratsantrag machte, nahm sie ihn an. Er war der CADS gegenüber schüchtern, ein bißchen reserviert und blieb den Aufführungen daher, abgesehen von Rosas Premieren und den jeweils letzten Vorstellungen, fern, vermutlich weil er glaubte, er würde ihr damit einen Gefallen tun. Gelegentlich lud Rosa die wichtigsten Personen des Ensembles zum Essen ein, und dann spielte Ernest den Gastgeber, verbarrikadierte sich hinter einem Tapeziertisch und schenkte den Frascati aus. Dann kam es ihm so vor, als würden sie alle wie Wale trinken, und er war froh, wenn es vorbei war und die Treibhausatmosphäre sich wieder auf Normaltemperatur abgekühlt hatte. Jetzt fragte er sie, wie es gelaufen war.
»Ach«, seufzte Rosa erschöpft und preßte einen Handrücken gegen ihre Stirn. »Es war schrecklich. Joyce hat immer noch nichts an meinem Kostüm getan, David Smy trampelt wie ein Elefant auf der Bühne herum, und die Venticellis sind ein hoffnungsloser Fall.«
Ernest trank seinen Kakao aus, schnappte sich eine Pfeife und stopfte sie in zufriedener Vorfreude. Er hatte natürlich seine eigenen Dramen in seinem eigenen Arbeitsbereich. Beschwerden des Vorarbeiters, Krach in den Hütten, gelegentlich auch ein schwerer Unfall. Aber die Aktivitäten am Theater bewegten sich in einer völlig anderen Sphäre. Und Rosa erzählte davon immer mit einem derartigen Elan, daß sie sich weit über die gewöhnlichen Unwägbarkeiten seines Arbeitsalltags erhoben.
»Harold sagte, er würde sie erwürgen.« (Rosa eröffnete ihre Monologe stets mit einer etwas blumigen Hyperbel.) »Einen nach dem anderen und sehr langsam, wenn sie nicht endlich ihre Stichworte lernen.«
»Tatsächlich?« Ernest hielt seine Kommentare bewußt unverbindlich. Rosas Einstellung zu ihrem Regisseur schwankte. Manchmal kannten ihr Abscheu und ihr Hohn für seine Affektiertheit keine Grenzen; und dann wieder - gewöhnlich dann, wenn sich Harold mit einer der führenden Schauspielerinnen gestritten hatte - genoß er ihre ganze Sympathie. Dann waren sie Gleichgesinnte, mit glänzendem Talent, die an ein und demselben Strang zogen und in einem See der Mittelmäßigkeit unterzugehen drohten. Heute würde es mit Sicherheit einer der letzteren Abende werden.
»Die Venticellis eröffnen das Stück, stimmt’s? Nur die beiden ... in einem Rutsch... keinen Stopp. Wie Ros und Gil... weißt du?« Ernest nickte weise. »Ich meine, sie werden diese Produktion umbringen... absolut vernichten, bevor ich meinen Auftritt habe.«
Ernest nickte erneut und stopfte noch ein wenig seine Pfeife. Er hatte keine Ahnung, wer oder was die Venticellis waren, aber die armen Kerle sollten sich besser warm anziehen, wenn sie das Rennen überleben wollten. Rosa war nun zu Boris gekommen, der, wie sie sagte, sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit anmalte und den Kaiser Joseph wie eine wildgewordene bayerische Hausfrau spielte.
Wenn es Ernest in den Sinn kam, darüber nachzudenken, wurde ihm bewußt, daß Rosas Zunge in den letzten zwei Jahren, in denen sie zwölf Stücke gegeben hatten, zwar regelmäßig Vorstellung für Vorstellung total verriß, dabei aber niemals den Namen ihres ersten Mannes über die Lippen brachte. Allerdings behielt er diese Beobachtung klugerweise lieber für sich.
»Ruiniert, ruiniert!« Avery rannte durch die mit Teppich ausgelegte Diele, riß sich den Kaschmirschal vom Hals und pfefferte ihn gen Boden. Die Handschuhe flogen auf den Aubusson-Teppich, sein Mantel auf das himbeerfarbene Satinsofa. Tim stolperte im Kielwasser dieser Turbulenzen hinterher, hob Averys Sachen auf und murmelte nur: »Für manche ein echtes Unglück«, als er bei den Handschuhen ankam. Er stopfte sie rechts und links in Averys Manteltaschen und hing das Kleidungsstück in der engen Diele neben seinem eigenen Mantel auf, wobei ihn die Diskrepanz zwischen dem Tattersallkaro mit der Girlande aus türkisem Kaschmir und den kleinen Walnußfingern, die sich flehentlich in die Luft streckten, und seinem eigenen düsteren, dunkelgrauen Fischgrät-mantel und Marineschal amüsierte.
Avery, der mittlerweile sein Tablier und die Frosch-küchenhandschuhe trug, zog den Bräter aus dem Ofen. Er stellte ihn auf ein Holzbrett und hob den Deckel einen Millimeter hoch. Während sie nach Hause geeilt waren, hatte er die ganze Zeit mit dem Schicksal gehadert. Er würde Tim nicht einmal nach dem Grund und dem Inhalt der zuvor erwähnten Telefonate fragen, wenn er ein Auge auf die Daube geworfen hatte. Avery, der wußte, daß nahezu übermenschliche Zurückhaltung notwendig war, um sich an seinen Part der Vereinbarung zu halten, glaubte auf eine beinahe magische Weise daran, daß sich auch die andere Partei an ihren Teil der Absprache halten würde. Aber während er den Gartenweg hinauflief und sich sicher war, daß er einen Hauch Kohle in der kalten Nachtluft witterte, löste sich diese Gewißheit auf. Und als er gequält von bösen Vorahnungen durch das Wohnzimmer lief, war er sich ziemlich sicher, daß die Bastarde ihn mal wieder hatten hängen lassen. Und das bestätigte sich nun.
»Er hat eine Kruste!«
»Das ist schon in Ordnung.« Tim kam in die Küche geschlendert und griff nach dem Flaschenöffner. »Warum brichst du sie nicht einfach auf und rührst sie unter?«
»Das ist ein Cassoulet, mein Gott...«
»Um Himmels willen, jetzt hör endlich auf, die Hände zu ringen. Es ist doch bloß ein Eintopf.«
»Ein Eintopf! Ein Eintopf!«
»Wenigstens können wir nun nicht mehr behaupten, daß niemand in diesem Hause eine Kruste hätte.«
»Mehr als ein Witz fällt dir nicht dazu ein?«
»Es war nicht so gemeint. Ich bin nur einfach hungrig. Und wenn du dir wirklich solche Sorgen darum gemacht hast, hättest du doch früher nach Hause fahren können.«
»Und du hättest gefälligst ins Theater kommen können.«
»Ich war mit der Bestellung von Faber beschäftigt.« Tim lächelte und spielte damit den Ärger in seiner Stimme herunter. Wenn Avery in dieser Verfassung war, würde es sicher Mitternacht werden, ehe er einen Happen in den Mund bekam.
»Und die Anrufe waren von Camelot-Antiquitäten. Es ging um unsere Fußbank, und Derek Barfoot hat durchgeklingelt, um uns für Sonntag zum Essen einzuladen.«
»Oh.« Avery sah verlegen, erleichtert, dankbar und ermutigt zugleich aus. »Danke schön.«
»Sieh mal. Warum nehmen wir nicht einfach diesen Löffel mit den Löchern und...«
»Nein! Du wirst es wohl nie kapieren!« Avery stand vor seiner Kasserolle wie eine Mutter, die ihre Kinder vor einer rasenden Bestie beschützt. »Ich habe eine bessere Idee.« Er holte eine Schachtel mit Papiertüchern hervor und legte mit langsamer und ausgesuchter Vorsicht ein halbes Dutzend davon auf die gekräuselte oberste Schicht. »Das wird die ganzen Stücke aufsaugen, und dann kann ich alles zusammen mit einem Fischmesser abheben.«
»Ich dachte, das Beste säße unten«, brummte Tim, ging zur Speisekammer und holte den Wein.
Die Speisekammer war in Wirklichkeit Averys Domäne, aber sie hatte eine Nische aus Steinfliesen mit einem Gitterfenster an der Außenwand, durch das sie wunderbar kühl blieb und damit genau die richtige Temperatur für ein Weinregal hatte. Der winzige Raum war hell erleuchtet und vollgestopft mit Vorräten. Walnüsse und Haselnüsse und Sesamöl. Oliven, Kräuter und Pralinen aus der Provence. Anchovis und Provolone, Trüffel in kleinen Gläsern. Dosen mit Muscheln und Szechuanpfefferkörnern. Kartoffelmehl und viele Senfsorten. Prosciutto und Wasserkastanien. Ein Schinken mit faltiger, ledriger Haut in der Farbe von Süßholz hing neben der duftenden Salami von der Decke herab. Kleine Amaretti und Schnecken. Tomatenmark und Maronenpüree, geräucherter Fisch und Seehase, Möweneier und Regenpfeifereier und eine Chilisauce, die so scharf war, daß sie Steine aus einem Hufeisen hätte schlagen können. Tim schob einen Topf mit Pfirsichen in Brandy zur Seite, nahm eine Flasche aus dem Regal und ging in die Küche zurück.