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»Welche willst du aufmachen?«

»Den Chateau d’Issan.«

Avery kaute auf seinen weichen, dicken Lippen (der kleine beruhigende Tropfen, den die Telefonate verursacht hatten, war nun verschwunden und hatte sich in einen großen See allgemeinerer Befürchtungen verwandelt) und beobachtete, wie Tim den Korkenzieher drehte, die Chromflügel nach unten drückte und mit einem sanften Plopp den Korken aus der Flasche zog. Avery fand, das sei der zweitschönste Klang auf Erden (und folgte dicht hinter dem Geräusch eines Reißverschlusses, der aufgezogen wird), während ihm der schreckliche Verdacht kam, es sei Tims Lieblingsgeräusch. Nun, da er die glatten, dunklen, seidigen Haare auf dem Handrücken seines Geliebten sah, auf die das Küchenlicht einen Flimmer zauberte, und während er beobachtete, wie seine eleganten Hände die Flasche kippten und den duftenden Wein einschenkten, stieg in Averys Bauch dieses vertraute Gefühl auf, eine Mischung aus Schrecken und Entzücken. Tim zog sein Jackett aus und legte eine olivgrüne Rehlederweste und ein schneeweißes Hemd frei, dessen Ärmel von altmodischen elastischen Bändern gehalten wurden. Dann senkte er seine schmale, ästhetische Nase über das Glas und schnupperte daran.

Avery würde nie verstehen, wieso jemand, der so leidenschaftlich auf das achtete, was er trank, nicht genauso wählerisch mit dem war, was er aß. Tim würde alles verspeisen, was er für »lecker« hielt, und das waren die unterschiedlichsten Dinge. Einmal, als sie eine Stunde im Rugbystadion festsaßen, hatte er mit allen erdenklichen Anzeichen von Genuß einen Cheeseburger und Pommes frites verdrückt, dazu einige Stücke weißes, gummiartiges Brot, ein schauriges Stück Backware mit drei Kringeln aus Marmelade in den drei Farben der Verkehrsampel, zwei Kit-Kats verschlungen und eine Tasse beißenden, rostfarbenen Tee geschlürft. Und dabei konnte Tim für sich nicht einmal die Entschuldigung geltend machen, aus der Arbeiterklasse zu stammen, wie Avery damals dachte, der sich seinerseits mit einer Orange und einem Glas lauwarmer Liebfrauenmilch abmühte. (Tim hatte ihm erklärt, daß Liebfrauenmilch nicht nur ein Produkt mehrerer Länder sei, sondern auch noch mit Frostschutzmittel gestrecktwar.)

Also warum, fragte sich Avery zuweilen, wenn er in seiner riesigen Sammlung von Kochbüchern blätterte, arbeitete er eigentlich so lange und innig in der Küche? Die Antwort schoß ihm sofort durch den Kopf, und sie blieb immer die gleiche. Avery bereitete seine Ringeltaube a la paysanne, Truites ä la creme und Fraises Romanoff nur aus einem einzigen Grund zu: Er servierte sie Tim im Geiste erregender Demut, weil das seine höchsten Leistungen waren, das Beste, was sein liebendes Herz zu bieten hatte. In derselben Weise bügelte er Tims Hemden, suchte frische Blumen für sein Zimmer aus und plante kleine Vergnügungen. Wenn er einkaufen ging, suchten seine Augen nahezu unbewußt ständig nach etwas, womit er ihm eine Überraschung bereiten, ihm ' ein Geschenk machen konnte.

Er hörte nie auf, sich über die Tatsache zu wundern, daß er und Tim seit sieben Jahren zusammen waren, insbesondere, als er die Wahrheit über dessen Freunde im Hintergrund entdeckte. Avery war schon immer schwul gewesen und hatte voller Naivität einfach vorausgesetzt, daß das bei Tim genauso gewesen wäre. Dann hatte er allerdings entdeckt, daß Tim seine sexuellen Vorlieben schmerzvoll und Stück für Stück entdeckt hatte. Daß er sich zuerst für einen ganz normalen heterosexuellen Teenager gehalten hatte, ehe darauf einige bisexuelle Jahre gefolgt waren. (Er war sogar in seinen frühen Zwanzigern mal achtzehn Monate verlobt gewesen.)

Dieses Wissen hatte Avery in einen Sog der Angst gerissen. Tims Versicherungen und sein Hinweis, daß das alles vor zwölf Jahren passiert war, hatten Avery, der von Natur aus sehr impulsiv war, nur wenig beruhigen können. Selbst jetzt noch suchte Avery, ohne es sich freilich anmerken zu lassen, bei Tim ängstlich nach Anzeichen dafür, daß sich diese früheren Neigungen wieder erneuert haben könnten, so wie eine angeberisch gefärbte Pflanze sich gelegentlich ja auch in ihre weniger auffälligen Vorfahren zurückverwandelt.

Avery dachte darüber nach, weil er nie, niemals, auch nicht in Trillionen oder Zillionen von Jahren verstehen würde, was Tim in ihm sah. Zuerst einmal gab es da den physischen Gegensatz. Tim war groß und hager, mit hohlen Wangen und einem Mund, in dem selbst in entspanntem Zustand soviel Strenge lag, daß einen seine Süße, wenn er plötzlich lächelte, fast schockierte. Avery kam es so vor, als sei er eine Figur aus einem Bild von Caravaggio. Oder vielleicht (im Moment sah sein Profil alarmierend unbeugsam aus) ein Mönch aus dem Mittelalter. Nicholas hatte mal gesagt, er glaubte, daß Tim, obwohl emotional mager, spirituell sehr opulent sei. Das war es natürlich nicht, was Avery hatte hören wollen. Er gab nicht das Geringste auf spirituelle Opulenz. Servier ihm Tag für Tag ein schönes Filet Mignon und eine zärtliche Liebkosung, hatte er nur geantwortet.

Avery wußte, daß er im Vergleich zu Tim eine schreckliche Figur hatte. Er war rundlich, und sein Aussehen war, genau wie sein Wesen, schlampig und zerfahren. Seine Lippen waren zusammengepreßt und viel zu voll, seine Augen verwaschen blau und leicht hervorstehend, und seine Wimpern farblos. Seine Nase war, bloß um anders zu sein, winzig und schmal und schien sich in der rosafarbenen Breite seines Gesichts zu verlieren. Sein Kopf war sehr rund und von einem Ring aus buttergelben Locken ohne Spannkraft umgeben, die wie Daunen von Entenküken aussahen. Wegen seiner Glatze war er schon immer unsicher bis zur Selbstquälerei gewesen und als er Tim kennenlernte, trug er eine Perücke. Am Morgen ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte er sie im Mülleimer wiedergefunden. Danach war zwischen den beiden nie wieder die Rede davon gewesen, und Avery hatte mutig ohne Perücke weitergelebt, bestrahlte sich und seinen Skalp statt dessen allerdings einmal pro Woche mit einer Höhensonne.

Dann war da nicht zuletzt noch der Unterschied in ihren Neigungen und Veranlagungen. Tim war fast immer ruhig, während Avery aufgeregt zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt pendelte, wobei er sämtliche psychischen Wegstationen durchschritt. Seine Reaktionen waren jedenfalls immer höchst dramatisch. Was Tim zwar stets amüsiert zu haben schien, aber in jüngster Zeit hatte Avery ein-oder zweimal ein leises Anzeichen von Ungeduld bemerkt. Nein, nicht mehr als ein Zucken zusammengepreßter Lippen genaugenommen. Aber eben zweifellos ein Zucken. Nun, da er seinen Bordeaux trank, formulierte Avery im Geist ein weiteres von vielen Gelöbnissen. Er würde lernen, die Dinge weniger schwer zu nehmen. Er würde erst denken und dann sprechen. Erst mal tief durchatmen. Vielleicht sogar bis zehn zählen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schmortopf zu, und die Tücher waren, ohne eine Spur zu hinterlassen, versunken. Avery entfuhr ein Schrei, der bestimmt auf der halben Straße zu hören war.

»Zum Teufel.« Tim stellte sein Glas auf der Arbeitsfläche ab. »Was ist denn nun schon wieder los?«

»Die Kleenex sind auf den Boden gesunken.«

»Ist das alles? Ich dachte schon, jemand hätte versucht, dich zu kastrieren.«

»Ich wollte doch nicht, daß sie alles aufsaugen«, schluchzte Avery.

»Nun haben wir entdeckt, daß sie es doch tun. Erkenntnis ist nie umsonst. Wir geben es einfach Nicholas.«