»Das kannst du nicht machen - es ist doch voller Papiertücher.«
»Dann eben Riley.«
»Riley! Da ist eine halbe Flasche Beaune drin.«
»Dann wird er eben glauben, es sei Weihnachten.«
»Wie auch immer, Riley ist ein Fisch-und kein Fleischesser. Was hast du vor?«
»Ich mache mir einen Toast.« Tim schnitt Brot auf dem marmornen Kuchentablett. Jetzt griff er an Avery vorbei und stellte den Grill an. Dann füllte er ihre beiden Gläser wieder nach.
»Trink aus, Schatz. Und hör auf, über das Mobiliar zu fließen.«
»Entschuldige...«, schniefte und schnaubte Avery und leerte sein Glas.
»Du bist nicht... du bist nicht böse auf mich, Tim?«
»Nein, Avery, ich bin dir nicht böse. Ich stehe nur kurz vor dem Hungertod.«
»Ja. Also...«
»Bitte, hör auf, dich zu entschuldigen. Erheb dich von deinem Hinterteil und hilf mir. Da müßte doch noch etwas von der Entenleberpastete übrig sein. Und wir könnten auch die Mangoeiscreme aufessen.«
»Also gut.« Immer noch murrend und maulend ging Avery zum Kühlschrank. »Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt mit mir abgibst.«
»Hör auf, mir zu schmeicheln, das steht dir nicht.«
»Entsch...«
»Und wenn nicht ich, wer sonst?«
Diese so selbstverständliche Frage schien für Avery nicht mehr als die reine Wahrheit zu sein. In seinem Kummer ließ er den Kopf hängen und dachte nach, wobei er auf seinen runden Bauch und seine knubbeligen kleinen Füße heruntersah. Dann blickte er auf und wurde augenblicklich mit Tims strahlendem Lächeln konfrontiert. Oh, was für ein wunderbarer Tag! dachte Avery und strahlte nun seinerseits voller Glück. Und dann, um die Sache absolut perfekt zu machen und weil er und Tim gleichermaßen achtlos waren, verbrannte der Toast.
»Wir können wohl annehmen, daß das jetzt Kohlebiskuits sind«, stellte Avery fest und trank den Wein aus. Dann erklärte er, weil er die Ermahnung, nichts Schmeichlerisches zu sagen, schon wieder vergessen hatte: »Ich wünschte, ich wäre mehr wie du. Ruhiger.«
»Gütiger Himmel, das wäre ja das letzte. Ich würde es hassen, mit jemandem zu leben, der genauso ist wie ich. Das würde mich innerhalb einer Woche zu Tode langweilen.«
»Wirklich, Tim?« Averys schmerzvoller Herzschlag beschleunigte sich auf wunderbare Art und Weise. »Ist das wirklich wahr?«
»Ein Drama pro Tag hält den Trübsinn fernab.«
»Hm.« Avery schenkte sich noch mehr Wein nach.
»Ich vermute, das ist wahr.«
»Aber für heute haben wir unsere Ration gehabt. Jetzt können wir weitermachen.«
»Ja, Tim.« Avery beeilte sich in seinem Überschwang, ungesalzene Butter, Sellerie, die Pastete und eine weiße Porzellanschale voller Tomaten hervorzuzaubern. Tim hatte natürlich recht. Es war allgemein bekannt, daß Gegensätze sich anziehen. Das war wahrscheinlich der Grund, warum es insgesamt gesehen mit ihnen beiden so gut klappte. Weshalb sie so glücklich miteinander waren. Es war einfach nur dumm von ihm, gerade mit jenen Charaktereigenschaften zu hadern, die sein Partner so anziehend an ihm fand.
Avery nahm die handbetriebene Kaffeemühle und füllte ein paar Kaffeebohnen in den kleinen Holzkasten. Er weigerte sich, das elektrische Gegenstück zu verwenden, weil er glaubte, daß die unkontrollierbare Hochgeschwindigkeit die Bohnen, die er sich eigens von einer afrikanischen Kaffeefirma schicken ließ, überhitzen und ihr Aroma zerstören würde. Der Duft der Kaffeebohnen vermischte sich mit dem fruchtigen Bukett des Weins und dem sehr gewöhnlichen, aber für Avery immer wieder zutiefst befriedigenden Geruch nach frischem Toast. Er setzte sich voller Erwartungen an den geschrubbten Kiefernholztisch. Das war die Zeit, die er am meisten liebte. (Nun ja, fast.) Wenn es Essen und Wein gab, und Gerüchte und Späße.
Selbst an solchen Tagen, an denen sie nichts außer Bücher-verkaufen und Papierkram zu erledigen hätten, gab es doch immer wenigstens einen Kunden, der sich für ein übertriebenes Nachäffen oder eine groteske Unterstellung eignete, mit der sie dann ihre Späße treiben konnten. Aber natürlich waren die glanzvollsten Abende, die die höchste Unterhaltung lieferten, die Abende, die sie im Latimer verbracht hatten.
Dann konnten sie die Vorstellungen durch den Fleischwolf drehen und Beziehungen zerstückeln, Vermutungen anstellen und Meinungen über Harolds Geisteszustand (immer offen für Fragen und jedermanns Vermutungen) erörtern.
Aber gelegentlich, wenn es ein »Drama« zu Hause gegeben hatte, war Tim ein wenig mitgenommen, und dann litt Avery unter seinem Mangel an Interesse für die Vorkommnisse im Theater. Das war eine qualvolle Zeit für Avery, für den das Gerüchteverbreiten genauso leicht war wie das Luftholen, und die er daher auch mit der gleichen Notwendigkeit produzierte, mit der er atmen mußte. Als er jetzt Butter auf seinen Toast schmierte, sah er Tim an und strich dabei fein säuberlich, ein klein wenig unsicher, weiter. Aber es war alles in Ordnung. Tim sah Avery an, und seine grauen Augen, die so kalt wirken konnten, waren infolge eines leichten Anflugs von Schalkhaftigkeit erwärmt.
»Aber abgesehen davon, Frau Lincoln«, sagte er und griff nach dem Sellerie, »wie hat Ihnen denn eigentlich das Stück gefallen?«
Als Joyce Barnaby das Wohnzimmer betrat, saß ihr Ehemann vor dem Kamin und döste. Er hatte einen Fliederzweig gezeichnet, und der Stift lag noch in seiner Hand, obwohl der Skizzenblock auf den Boden gepurzelt war. Als seine Frau hinter dem Stuhl stand, die Arme um seine Brust legte und ihn an sich drückte, wurde er wach. Dann hob sie den Block auf.
»Du bist nicht fertig geworden.«
»Ich bin eingeschlafen.«
»Hast du deine Lasagne gegessen?«
Tom Barnaby gab ein abweisendes Grunzen von sich. Als Joyce von dem Vorsprechabend zu Amadeus nach Hause gekommen war und ihm erzählt hatte, daß sie die Rolle der Hüterin des Kuchens bekommen hatte, war es lediglich das rasende Sodbrennen in seiner Brust, das ihn davon abgehalten hatte, laut zu lachen. Kam er doch nie über die Tatsache hinweg, daß sie das, was sie Selbst gekocht hatte, zwar ohne große Freude, aber immerhin auch nicht mit allzu großem Widerwillen aß. Manchmal fragte er sich, ob sein ernsthafter Ausdruck des Mißfallens zu den Essenszeiten über die Jahre hinweg ein derart rituell-versteinertes Aussehen angenommen hatte, daß Joyce einfach beschlossen hatte, es als eine besondere Art von Familienwitz zu betrachten. Er beobachtete, wie sie sich über den Zweig der weißen und malvefarbenen Blumen beugte und deren Duft einsog.
»Wie ist es dir ergangen, Liebling?«
»Wie bei einem Abend mit den Marx Brothers. Ich wußte gar nicht, daß so viele Dinge schiefgehen können. Zum Glück erschien Tim nach der Pause mit seinem Rasiermesser; das hat Harold sichtlich aufgemuntert. Bis dahin war er den ganzen Abend unausstehlich. Molto distrato, mein Liebling!«
»Für was soll denn die Klinge gut sein?«
»Wart’s ab, du wirst es sehen. Wenn ich es dir jetzt schon sage, versaue ich dir damit die Premiere.«
»Nichts, worin du auftrittst, kann mir versaut werden...« Er nahm ihre Hand. »Wozu brauchst du denn so eine große Tasche?«
»Für die Garderobe. Der Hosensaum muß ausgelassen werden. Kaputter Reißverschluß. Und ein paar Bordüren, die aufgenäht werden müssen.«
»Du arbeitest zuviel.«
»O Tom.« Sie beförderte seine Füße von der Fußbank und setzte sich selbst darauf, wobei sie ihre kalten Hände dicht ans Feuer hielt. »Sag das nicht. Du weißt doch, wie gern ich es tue.«
Das wußte er. Er hatte sich vorhin ein Tonband angehört, das sie mit Arien von Katharina Cavalieri aufgenommen hatte. Joyce hatte eine wunderbare Stimme, einen vollen Sopran. Nicht ganz rein in den höheren Lagen, aber immer noch mit dem gleichen tiefen Schmelz. »Martern aller Arten« hatte ihn zu Tränen gerührt.
Als sie sich kennengelernt und ineinander verliebt hatten, war sie Studentin an der Guildhall School of Music gewesen. Er hörte sie zum ersten Mal während einer Vorstellung in ihrem letzten Studienjahr singen, und er hatte dagesessen, fassungslos und ängstlich dem wunderbaren Klang gelauscht. Eine ganze Weile danach konnte er immer noch nicht glauben, daß sie einen so gewöhnlichen Mann, wie er es war, lieben konnte. Oder daß er sich ihrer jemals sicher sein könnte.