Er hatte erst kürzlich, als Rosa wieder zu haben war, daran gedacht, sich von ihr scheiden zu lassen, weil er Rosa für eine wesentlich angemessenere Regisseursgattin hielt. (Manchmal fragte er sich, ob Doris überhaupt dankbar dafür oder sich des Status’ bewußt war, den ihm seine Position als einziger Theaterimpresario der Stadt verlieh.) Wie auch immer, nachdem er seine flüchtige Schwäche für Rosa im kalten Licht der Vernunft analysiert hatte, mußte Harold zugeben, daß sie nicht ernstlich standhalten konnte. Rosa war nicht nur an die Rolle als Hauptdarstellerin gewöhnt, nein, sie genoß sie, und er konnte kein Anzeichen dafür erkennen, daß sie zu seinen Gunsten freiwillig ihre Ambitionen zurückstecken würde. Doris dagegen hatte - neben ihren besonderen Aufgaben -, Eier einzulegen, Blumen zu trocknen und unschuldig gestrickte Kreaturen mit mehrfarbigen Schaumteilen auszustopfen - die hohe Gabe, sich unsichtbar zu machen. Tatsächlich war sich Harold mit einigem Vergnügen darüber bewußt, daß sie, immer wenn er einen Raum betrat, wie die Melanchra persicaria, förmlich in ihren Holzarbeiten verschwand. Und was am wichtigsten schien, sie war nicht geldgierig. Er hatte seiner Frau und den Kindern Bescheidenheit auferlegt, und zwar in einem viel höheren Maße, als das eigentlich notwendig gewesen wäre. Über die Hälfte seines Gewinns aus der Firma (da hatte Joyce ganz recht) verschwand in seinen Inszenierungen, so daß jeder Schwätzer, der meinte, diese in irgendeiner Weise kritisieren zu müssen, wenigstens nie behaupten konnte, die Stücke wären nicht gut ausgestattet.
Ein bernsteinfarbenes Rechteck aus Licht fiel durch die Windschutzscheibe.
»Harold?«
Harold seufzte, polierte kurz den Kilometerzähler mit seinem Taschentuch und rief: »Einen Moment noch!«
Er kletterte aus dem Cockpit. Das war der Wendepunkt für ihn. Der Moment, in dem er sich aus dem heißblütigen, wilden, turbulenten Rund seiner Arena in die schattige, graue, halbverschwommene und immer noch unreale Welt des Ernährens begab.
»Dein Abendessen wird kalt.«
»Dinner, Doris.« Die Gereiztheit hatte ihn schon wieder voll in den Klauen, als er sie in die Küche schob. »Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?«
»Wie geht es ihm, Mrs. Higgins?« Dierdre betrat die Küche leise durch die Hintertür, und die ältere Frau, die am Herd saß, zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Er war ja so brav«, antwortete Mrs. Higgins. »Wenn man’s bedenkt.«
Dierdre fand, das »Wenn man’s bedenkt« sei völlig unangebracht. Sie beide wußten schließlich, daß es Mr. Tibbs nicht immer so gut ging, und ihnen war auch bekannt, weshalb. Dierdre blickte zum Kaminsims. Mrs. Higgins’ Umschlag war fort, und als die Frau sich auf die Füße hievte, bemerkte Dierdre, daß er aus der Tasche ihrer schmuddeligen Schürze hervorlugte.
»Hoppla.«
»Schläft er noch?«
»Nein. Er spricht mit sich selbst. Ich habe ihm einen schönen Teller Suppe gemacht.«
Dierdre blickte in den Topf im Spülbecken und bedankte sich: »Sie sind so nett.« Dann half sie Mrs. Higgins in den Mantel. Die Dankbarkeit und Anerkennung in ihrer Stimme waren nicht gespielt. Wenn Mrs. Higgins nicht gewesen wäre, hätte Dierdre gar kein Leben gehabt. Kein Leben außerhalb ihres Zuhauses und der Gasversorgungsgesellschaft, denn sie hätte sonst wohl kaum jemanden gefunden, der sich für ein paar Pfund mit einem verwirrten alten Mann beschäftigen würde. Nicht, daß sie die Sache mit dem Geld völlig unter den Teppich kehrte. In der Anfangszeit hatte Dierdre es Mrs. Higgins ein paarmal angeboten, aber eigentlich nur, um zu hören: »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen, meine Liebe, ich sitze doch bloß nebenan und glotze in die Flimmerkiste.« Die Münzen, die Dierdre unter den Teetopf gelegt hatte, verschwanden dann allerdings doch, und nun war es auch mit dem Briefumschlag nicht anders.
Als Mrs. Higgins gegangen war, schloß Dierdre die Tür und verriegelte sie, setzte etwas Milch für ihre Horlicks auf die niedrigste Flamme und stieg die Treppe hoch. Ihr Vater saß kerzengerade in einem frischen Schlafanzug unter einem großen, düsteren Druck von Das Licht der Welt. Sein grauer Schnurrbart, in dem noch immer blaßrote Haare schimmerten, war von Tränen der Freude durchtränkt, und seine Augen leuchteten.
»Er kommt!« rief er, als Dierdre ins Zimmer kam. »Der Herr kommt!«
»Ja, Daddy.« Sie setzte sich auf sein Bett und nahm seine Hand. Es fühlte sich an, als würde sie ein paar dürre Knochen in einem Beutel aus Haut halten.
»Möchtest du noch etwas trinken?«
Sie wußte, daß es nicht gut wäre, ihn hinzulegen. Er schlief immer im Sitzen, den Rücken ganz senkrecht an eine Säule aus Kissen gelehnt. Sie tätschelte seinen Arm und drückte ihm einen Kuß auf die feuchten Wangen. Er befand sich jetzt schon seit einigen Monaten in diesem verwirrten Zustand. Die ersten Anzeichen, daß mit ihm nicht alles in Ordnung war, zeigten sich, als sie eines Abends nach dem Kulissenbau aus dem Theater kam und ihn auf der Straße traf, wo er von Haus zu Haus ging, an die Türen klopfte und den staunenden Bewohnern eine Schaufel glühende Kohlen anbot.
Gleichzeitig erschreckt und belustigt nahm sie ihn mit nach Hause, schüttete die Kohlen in den Küchenherd und fragte ihn sanft aus, um eine rationale Erklärung für sein Verhalten zu finden. Seitdem war er häufig benebelt oder verwirrt. (Dierdre verwendete immer diese neutralen Begriffe, um die schrecklichen offiziellen Definitionen zu vermeiden. Als eine der Sozialarbeiterinnen aus der Tagesstätte, in der Mr. Tibbs tagsüber versorgt wurde, ihr mit diesem Vokabular gekommen war, hatte Dierdre sie aus Angst und Ärger heraus lauthals beschimpft.)
Es gab bei ihm zwischendurch immer noch längere Phasen wunderbarer Klarheit. Nur leider ließ sich keine Regelmäßigkeit in ihrem Aufkommen oder Abklingen herausfinden. Der vergangene Sonntag war ein wunderbarer Tag gewesen. Nachmittags hatten sie einen Spaziergang unternommen, und sie konnte ihm alles über Amadeus erzählen, wobei sie die Rolle, die sie innerhalb der Produktion spielte, wie immer etwas übertrieben darstellte, damit er stolz auf sie sein konnte. Abends hatten sie dann ein Glas Portwein getrunken und ein paar klumpige hausgemachte Kuchen verspeist, und er hatte Evergreens gesungen, die er noch aus seiner Kindheit kannte. Als Dierdre geboren wurde, zählte er schon über vierzig Jahre, und daher waren die Lieder sehr alt. »Red Sails in the Sunset«, »Valencia« und »Oh, oh, Antonio«. Er hatte dazu seine Melone aufgesetzt, wirbelte den Spazierstock und war dabei nur noch ein trauriger Schatten von dem Mann, der vor Jahren Dierdre und ihre Mutter so sehr entzückt hatte. Sein Haar war damals noch rotblond gewesen, und sein Schnurrbart hatte geglänzt wie eine neue Roßkastanie. Beide hatten einige Tränen vergossen, bevor sie am vergangenen Sonntag zu Bett gegangen waren.
Dierdre schritt zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen, und einen Moment lang stand sie da und schaute zum Himmel. Da standen ein leuchtender Mond und eine Kavalkade aus feinen Wolken. Gabriel, ihr Schutzengel, lebte dort oben. Aber er wandelte auch strahlend und schimmernd auf Erden, nur einen unsterblichen Atemzug entfernt, und warf dabei ein liebendes Auge auf die weltlichen Sorgen der Tibbs’. Als sie noch ein kleines Mädchen war, wirbelte Dierdre zuweilen ganz schnell herum, weil sie hoffte, sie könnte so seine fast vier Meter hohen Schwingen sehen, ehe er sich mit seinem Umhang wieder unsichtbar machen konnte. Einmal war sie sogar ganz fest davon überzeugt gewesen, den Umriß seines goldenen Fußabdrucks gesehen und dann direkt über ihrem Kopf ein Geräusch gehört zu haben, ein schnelles, schlagendes Rauschen, als wären tausend Schwäne an ihr vorbeigeflogen.