Genauso wie jeder einen Schutzengel hatte, der über ihn wachte, hatte auch jeder einen eigenen Stern. Als sie ihren Vater mal gefragt hatte, welcher denn nun der ihrige sei, hatte er geantwortet: »Das ist immer der Stern, der am hellsten leuchtet.« Heute nacht sahen sie alle gleich und irgendwie auch sehr kalt aus, fand Dierdre und ließ den Vorhang wieder los. Sie erinnerte sich an die Milch und rannte hinunter in die Küche, kam aber zu spät, um das Überkochen noch verhindern zu können.
Sie füllte den Topf erneut und stellte ihn auf den Herd zurück, und dann nahm sie ihr Skript von der nächsten Produktion (Onkel Wanja) von der Anrichte. Es war auseinandergefallen und wieder zusammengesetzt worden, und zwischen den Seiten gab es leere Blätter, wie bei allen Kopien der Stücke, in denen sie die Assistentin des Bühnenmeisters gewesen war. Dierdre fing immer schon lange vor der ersten Probe an, sehr sorgfältig und genau am jeweils nächsten Stück zu arbeiten. Sie würde es lesen und noch mal lesen, um die Charaktere genausogut kennenzulernen, als lebte sie mit ihnen. Sie bemühte sich, den Sinn zu verstehen und das Tempo zu erfassen. Ihr Kopf war voller Ideen für die Bühnengestaltung, und sie verwendete lange Papierrollen an dünnen Karteikarten, um ihre Sets zu entwerfen. Sie war von Onkel Wanja genauso begeistert wie von Der Kirschgarten, denn sie war von Tschechows einzigartiger Fähigkeit gefesselt, eine scheinbar natürliche Welt zu produzieren, die voller realer Menschen zu sein schien, und dann diese Welt mit den dramatischen Mitteln und den Grenzen des Theaters zu vereinen.
Nun, da ihr bewußt wurde, wie hungrig sie war, schlug sie Onkel Wanja zu und legte das Buch beiseite. Sie schaffte es nie, vor den Theaterabenden etwas zu essen, jedenfalls nicht, wenn sie pünktlich da sein wollte. Im Kühlschrank fand sie noch einen Rest von der Salatcreme mit einer kleinen Scheibe Rindfleisch und zwei roten Rüben. Während sie die Margarine auf das weiche Weißbrot strich, das einzige, das der Gaumen ihres Vaters noch zerdrücken konnte, flüchtete sie sich in die häufigen und beliebten Tagträumereien, in denen sie die Tiefpunkte der letzten Probe umgestaltete und das Drehbuch neu schrieb:
Dierdre: Ich glaube, die Venticellis stehen in der Eröffnungsszene viel zu dicht bei Salieri. Sie würden sich nie im Leben auf eine so intime Art an ihn drängen und ihn mit Sicherheit auch nicht berühren.
Esslyn: Sie hat völlig recht, Harold. Sie werden wirklich immer dreister. Ich hatte mir schon vorgenommen, daß wenn nicht bald einer etwas dazu sagen würde, es selbst anzusprechen.
Harold: Gut. Hört auf, den Star zu bedrängen, ihr zwei.
Und vielen Dank, Dierdre. Ich wünschte, ich hätte dich schon Vor Jahren dabeigehabt.
ODER
Harold: Dierdre, ich glaube, wir alle möchten Kaffee haben.
Dierdre: Entschuldige, aber Regieassistenten kochen keinen Kaffee.
(lautes Gelächter)
Harold: Tut mir leid. Wir sind so daran gewöhnt, daß du uns versorgst.
Rosa: Für uns war das immer selbstverständlich, Herzchen.
Esslyn: Und in der ganzen Zeit hast du deine tollen Ideen immer still für dich behalten.
Harold: Vorsicht - ich werde noch neidisch.
(Noch mehr Gelächter. Kmr geht rauf und macht den Kaffee)
oder
Harold: (RÄKELT SICH IN EINEM SESSEL IM VEREINSRAUM) Jetzt, wo alle anderen gegangen sind, kann ich es dir ja sagen, Dierdre. Ich wüßte nicht, was ich in dieser Produktion ohne dich anfangen sollte. Alles, was du sagst, ist so frisch und originell. (GROSSER SEUFZER) Ich bin so ausgelaugt.
Dierdre: O Harold, du darfst nicht glauben...
Harold: Hör mir bitte zu. Ich erarbeite gerade unsere Sommerproduktion. Für Onkel Wanja liegt viel Arbeit vor uns...
Dierdre: Ich wäre froh, wenn ich helfen könnte.
Harold: Nein, Dierdre. Ich werde dir helfen. Was ich möchte, was wir alle möchten, ist, daß du bei diesem Stück Regie führst.
Selbst Dierdres fiebrig hoffende Seele fand diesen Schlußdialog doch ein wenig zu unglaubwürdig. Als sie den letzten Rest von der dicken, gelbschimmernden Salatsauce auskratzte und auf dem Weißbrot verteilte, entwarf sie ein realistischeres Szenario. Harold würde einen Autounfall haben. Oder einen Herzinfarkt. Das Letztere war wahrscheinlicher, fand sie, wenn man sich den dicken Bauch unter der vorstehenden Brokatweste ins Gedächtnis rief. Sie betrachtete ihr fertiges Sandwich. Die Rübe fiel heraus. Sie fing sie auf, stopfte sie zurück und biß hinein. Es schmeckte nicht sehr gut. Die Milch kochte ein zweites Mal über.
»Meinst du, es wird klappen, Constanze?«
Kitty saß am Frisiertisch. Sie hatte die Strumpfhose ausgezogen und streckte ihre milchweißen Beine auf einem mit Stickereien verzierten Fußbänkchen aus. Obwohl sie ihre Schwangerschaft erst vor drei Monaten bestätigt bekommen hatte, war sie bereits dazu übergegangen, ihren kleinen Bauch festzuhalten und ein gequältes, mutiges Lächeln aufzusetzen. Manchmal wimmerte sie sogar auf eine Art, die nur den Schluß zuließ, sie würde damit auf winzige Tritte reagieren. Nun verteilte sie vorsichtig die Reinigungsmilch auf ihrem Gesicht, ehe sie die erwartete Antwort gab.
»Also, Liebster, ich denke, du wirst wunderbar sein. Es sieht doch schon hervorragend aus.«
»Beinah geschafft, oder?«
»Oh, natürlich. Und gegen solche Widerstände.«
»Absolut. Gott weiß, was Nicholas sich einbildet. Ich wundere mich, daß Harold ihm das durchgehen läßt.«
»Ich weiß. Donald und Clive sind die einzigen, die mal etwas sagen. Und das auch nur, weil sie wissen, wie du dich fühlst.«
»Hm. Sie sind in mancher Hinsicht ganz nützliche Gestalten.«
Esslyn hatte sich die Zähne geputzt und zog seinen Schlafanzug mit der halblangen Hose und der Jacke an, die aussah wie ein Judogi, setzte sich ins Bett und spannte seine Gesichtsmuskeln an. Mund öffnen, Kopf in den Nacken, Mund schließen und dabei versuchen, mit der Unterlippe an die Nasenspitze zu kommen. Er hatte die Kinnlinie eines Mannes von fünfundzwanzig. Für einen Mann von fünfundvierzig wirklich nicht schlecht. Er blies die Wangen auf und ließ sie langsam wieder einsinken (Nase zur Mundlinie). Dann betrachtete er eingehend seine hübsche Frau, die gerade mit dem Abschminken fertig wurde.
Er hatte sich stets in die bestaussehenden weiblichen Mitglieder der Truppe verliebt (das erwarteten sie auch), und in Krähenhorst hatte er sich tatsächlich mit einer munteren jungen Frau, die inzwischen Mrs. Carmichael war, in den Requisitenraum verzogen. Damals spielte sie die Poppy Dickie.
Unglücklicherweise war er unverheiratet, als die Schwangerschaft entdeckt wurde, und daher empfand er es als seine Pflicht, Kitty einen Heiratsantrag zu machen. Er tat es ziemlich kläglich. Eigentlich hatte er sich auf einige Jahre des süßen Lebens gefreut, bevor er sich jemanden gesucht hätte, der ihn im Alter versorgen könnte. Aber sie war ein fügsames kleines Ding, und er konnte nicht leugnen, daß seine späte Vaterschaft seiner Potenz einen hohen Status bei der Belegschaft seines Büros verschafft hatte. Und natürlich war es ein unglaublicher Stachel in Rosas Seele.
Er hatte das Gefühl, das sei die gerechte Entschädigung für ihr Verhalten, als er die Scheidung verlangt hatte. Sie hatte geschrien, getobt und geweint. Und geschimpft, er hätte ihr die besten Jahre ihres Lebens geraubt. Esslyn, der sich sehr vernünftig vorgekommen war, hatte ihr daraufhin erklärt, wenn er sie ihr nicht geraubt hätte, dann hätte es eben jemand anderes getan. Sie hätte sie ohnehin nur behalten können, wenn sie, statt zu leben, unberührt in einem Elfenbeinturm gesessen hätte. Und dann hatte sie noch geschluchzt, sie hätte immer Kinder haben wollen, und jetzt sei es zu spät, und all das wäre nur sein Fehler gewesen. Esslyn fand ihr Verhalten schlichtweg unmöglich.