Das verwilderte Stückchen Land, das der Garten sein sollte, war mit Nesseln, Disteln und hohem Gras zugewachsen, das gelegentlich schwankte und raschelte, wenn diverse Nagetiere in ihm herumstöberten. Auf dem Asphalt unter dem vorderen Erkerfenster stand ihr Wagen. Es war ein fünfzehn Jahre alter Volkswagen, der durch Punktschweißen und Willenskraft zusammengehalten wurde und dort ein Guinness-Schild hatte, wo eigentlich die Steuermarke hätte sein müssen. Mrs. Griggs, die Zeitungshändlerin an der Ecke, hatte der Polizei davon berichtet, und der Aufkleber verschwand für eine Weile, aber nun klebte er wieder da. Die Everards, beliebte Mrs. Griggs zu sagen, gaben ihr den Rest. Sie konnte Clives Schneidezähne, die sehr scharf aussahen und etwas vorstanden, nicht ausstehen, genausowenig wie Davids Angewohnheit, zu blinzeln und zu schielen. In ihrer Abwesenheit nannte sie die beiden die Ratte und den Maulwurf.
Einzeln zeigten sie sich nur sehr selten, und wenn das überhaupt mal der Fall war, dann umgab diesen vereinzelten Everard immer ein leiser Anflug von Unsichtbarkeit. Es war, als könnten sie nur durch ihre physische Nähe zueinander den Funken entzünden, der es ihnen ermöglichte, in ihrer ganzen bösen Vollständigkeit zu erscheinen. Sie schienen sich voneinander zu nähren, in boshafter Voraussicht und im gegenseitigen Austausch Fett anzusetzen. Nichts machte die Brüder glücklicher als die starke Verunsicherung ihrer Nachbarn, obwohl sie nie ehrlich genug gewesen wären, das auch zuzugeben. Tatsächlich war die Scheinheiligkeit ihr Lebenselixier. Niemand wäre überraschter gewesen als sie selbst, wenn jemand eine ihrer Bemerkungen falsch verstanden hätte. Oder wenn eine ihrer Intrigen oder einer ihrer Pläne den Zusammenbruch einer heiklen Beziehung verursacht hätte und dadurch Kummer entstanden wäre. Wer hätte das gedacht? Dann hätten sie geweint und sich in ihre scheußliche Küche zurückgezogen, um weitere Verschwörungen und Pläne zu schmieden.
Passanten, die an der Axon Street dreizehn vorbeikamen, starrten zu den grauen Fenstern hinüber, murmelten etwas vor sich hin und zogen die Augenbrauen hoch. Oder sie faßten sich an die Stirn. Die Frage: »Was sind denn das für welche?« wurde nicht selten gestellt. Die Antworten rangierten in einem erfreulich weiten Spektrum von subversiven Aktivitäten; es reichte von der Raubdruckproduktion von Untergrundliteratur bis hin zum Herstellen von Bomben für die IRA. Sie alle waren natürlich weit vom wahren Kern entfernt. Der Strahl der Bosheit der Everards war, obwohl mächtig, doch sehr dünn, und wenn sie nur ein bißchen Chaos innerhalb des unmittelbaren Bekanntenkreises auslösen konnten, dann waren sie schon zufrieden.
Die Proben
Das Theater lag optimal im direkten Zentrum von Causton an einer Kreuzung der Hauptdurchfahrtsstraße. Es handelte sich um ein Eckgebäude, das ursprünglich den letzten Laden (eine Bäckerei) in der High Street und das erste Geschäft (für Kurzwaren und Nähmaschinenreparaturen) in der Carradine Road beherbergt hatte. Der Komplex bestand aus langgestreckten Räumlichkeiten im Erdgeschoß (das Brot wurde im Haus selbst gebacken) und mehreren kleineren Zimmern im ersten Stock. Mit der wertvollen Unterstützung des damaligen Bürgermeisters und Stadtrats Latimer hatte die Causton Amateur Dramatic Society die beiden Häuser gemietet, und mittels eines Zuschusses des Stadtrats, dem Erlös aus verschiedenen Sammelaktionen und einem erheblichen Anteil an professioneller Hilfe waren die Gebäude komplett ausgeräumt und die Fassade erneuert worden.
Sie hatten eine Bühne mit schlichtem Bühnenrahmen gebaut, hundert dunkelgraue Plastiksitze auf dem angeschrägten Boden aufgestellt, einen einfachen Schnürboden installiert und die Beleuchtung verändert. Es gab einen Bühneneingang und zwei große Glastüren vor dem kleinen Foyer, das mit Schreibtisch, Stuhl, Telefon und einem alten Aktenschrank sowie einem Münztelefon eingerichtet war und auch als Büro diente. Darüber hinaus gab es ein Brett, an dem Farbfotografien der laufenden Produktion hingen. Der große Keller, der unter den beiden Läden lag, wurde zur Bühnenwerkstatt und zu Garderoben umgebaut. Letztere reichten von ihrer Kapazität her im allgemeinen völlig aus, sah man mal von den Weihnachtsaufführungen und Inszenierungen mit einer so großen Besetzung wie der für Amadeus ab. Die Toiletten der Darsteller befanden sich auf dem Gang, der die Kulissen mit dem Foyer verband.
Der Vereinsraum nahm Dreiviertel der oberen Etage ein und war während der Pausen auch für das Publikum geöffnet, so daß hier Kaffee und Wein verkauft werden konnte. Man hatte den Raum mit Plastiktischen und Plastikstühlen bestückt sowie einigen Sofas, die, mäßig verkleidet, schon genausooft wie manch einer der Schauspieler auf der Bühne gestanden hatten, zuweilen auch - es muß einfach gesagt werden - mit größerer Überzeugungskraft. Der Rest der oberen Etage wurde von zwei Besuchertoiletten ausgefüllt sowie von Tims Beleuchterkabine, auf deren Tür zu lesen stand: PRIVAT. KEIN ZUTRITT. Das Latimer war mit einem anthrazitfarbenen Filzteppichboden ausgelegt, und die Wände waren mit weißem Rauhputz versehen.
Viele der CADS blickten wehmütig auf jene früheren Tage vor fünfzehn Jahren zurück, als sie, umgeben von Schutt und Bauholz, von Kabelrollen und Steinstaubschwaden, aus dem Chaos ihr eigenes Theater aufgebaut hatten. Damals war vieles noch ganz anders gewesen. Harold zum Beispieclass="underline" Bartlos und schlank in alten Kordsamthosen packte er mit an, machte sich schmutzig, ermunterte die anderen, wenn sie müde wurden, und hielt ihnen den Traum vor Augen, wenn ihr Mut und ihre Begeisterung mal nachließen.
In jenen herrlichen Tagen schien es, als wären sie alle gleichgestellt. Jeder hatte seine Rolle zu spielen, und keine war weniger wichtig als die anderen. Aber nachdem das Theater offiziell eröffnet worden war und Bürgermeister Latimer seine lange, verschachtelte Rede gehalten hatte, um dann schwer betrunken an der Theke abzutauchen, begannen sich die Dinge zu ändern, und es wurde bald nur zu offensichtlich, daß manche gleicher waren als andere. Harold machte seinen Weg an die Spitze, trat jeden nach unten, der zu scheu, zu schwach oder einfach zu faul war, um sich zu wehren, bis er schließlich (niemand konnte genau sagen, wann der Punkt erreicht war, an dem es kein Zurück mehr gab) als absoluter Herrscher über alle regierte. Und nun stießen gelegentlich Leute zu der Truppe, die nichts von der großen Pionierzeit wußten, als jedes Mitglied noch etwas zu sagen hatte und mit Respekt behandelt wurde. Aufsässige Neulinge eben, die sich herzlich wenig um die Vergangenheit kümmerten.
Wie Nicholas zum Beispiel, der sich nun dem Bühneneingang des Latimer näherte. Nach allem, was Nicholas wußte, war die Causton Amateur Dramatic Society während einer Probe zu Französisch ohne Tränen ins Leben gerufen worden und würde mit Amadeus wieder sterben, wenn sein Vorsprechen beim Central erfolgreich verlaufen sollte (was einfach der Fall sein mußte). Er suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Er hatte einen eigenen bekommen, als Colin gemerkt hatte, daß er bereit war, sehr früh zu erscheinen, erst spät zu gehen, hin-und herzulaufen, sie von vorn und hinten zu bedienen und sich insgesamt äußerst nützlich zu machen. Selbst jetzt, in seiner gehobenen Position, die Esslyn widerwillig als zweite Hauptrolle anerkannte, erschien Nicholas immer noch gut eine halbe Stunde vor dem Bühnenmeister.
Tatsächlich war es noch nicht einmal sechs Uhr, als er das Gebäude betrat, so daß es ihn nicht überraschte, sofort von der Stille geschluckt zu werden. Er blieb einen Moment stehen und sog gierig die Luft ein, obwohl sie auch nicht exotischer roch als eine Orangenschale, die jemand in einen Blechmülleimer geworfen hat. Aber in seinen Lehrlingsnüstern erschien ihm dieser Duft wie eine Köstlichkeit, wie Ambrosia. Nicholas stieg leise und glücklich die Steinstufen zur Garderobe hinab.