Er zog seinen Anorak aus, schlüpfte in die Brokatjacke des Mozart und nahm sein Schwert. Nicholas war ein kleiner Mann, kaum mehr als einen Meter fünfundsechzig groß, ein Umstand, der ihm erhebliche Qualen verursachte - ungeachtet der Körpergröße eines Ian Holm, eines Anthony Sher und eines Bob Hoskins.
Selbst an einem guten Tag, wenn der Wind aus südlicher Richtung kam, hatte er Probleme mit dem Schwert, besonders dann, wenn er sich ans Klavier setzen oder aufstehen mußte. Er hatte eigentlich vorgehabt, das Schwert mit nach Hause zu nehmen und dort in Ruhe zu üben, wie er damit umgehen sollte, aber er war so dumm gewesen, Harold um Erlaubnis zu fragen, die dieser ihm prompt verweigert hatte. »Du wirst es bloß verlieren, und was machen wir dann?«
Nun legte Nicholas das Schwert um und begab sich zur Bühne, wobei er den Text seines ersten Auftritts vor sich hin murmelte und an die Premiere dachte, bei der er unter Umständen genau in diesem Moment über sein Schwert stolpern und bäuchlings auf die Bühne stürzen würde. Mit einem Kraftakt schüttelte er diese Sorge ab. Im nächsten Augenblick war er schon auf der Bühne angekommen; Turnschuhe dämpften das Geräusch seiner Schritte. Einen Moment lang verharrte er da und wurde sich aufgeregt des Schauers bewußt - halb Grauen, halb Entzücken -, der ihn immer beim Betreten der Bühne überlief, selbst dann, wenn das Theater leer war.
Aber augenblicklich war das gar nicht der Fall. Er vernahm nämlich ein Geräusch, blieb wie angewurzelt stehen und blickte sich verblüfft um. Die Sitze waren leer. Er sah in die Richtung, aus der er gekommen war, aber auch in den Kulissen war niemand auszumachen. Dann duckte er sich und blickte über den abgeschrägten Boden, weil er erwartete, dort Riley vorzufinden, der sich gegen einen widerlichen Eindringling zur Wehr setzte. Aber da war kein Kater. Dann kam das Geräusch wieder. Schrill. Mit einem unangenehmen Unterton. So, wie es klingt, wenn man mit einem Fingernagel über eine Fensterscheibe fährt. Was konnte das bloß sein? Und woher kam es? Nachdem er die Bühne, die Kulissen und den Zuschauerraum durchsucht hatte, war Nicholas einigermaßen verwirrt. Bis er den Kopf hob.
Der Anblick, der sich ihm bot, war so überraschend, daß er einige Sekunden brauchte, um genau zu erfassen, was er da eigentlich anstarrte. Jemand war in Tims Beleuchterkabine. Ein Mädchen. Nicholas schluckte schwer. Ein nacktes Mädchen. Jedenfalls so weit nackt, wie er sie sehen konnte, nämlich bis zu ihren Hüften. Darunter ging die Glaswand in solides Holz über. Das Mädchen hatte einen wirren blonden Haarschopf und schmale Schultern, und ihr Rücken war gegen das Glas gepreßt. Wenn sie ihn bog, wie sie es nun tat, hinterließen ihre Schultern unregelmäßige feuchte Kreise auf dem Glas, die wie Blüten mit Tautropfen wirkten. Ihre Arme waren ausgestreckt, und ihre Finger, die sich auf dem Glas zusammenpreßten und wieder lösten, verursachten dieses eigentümliche Geräusch. Er wußte, wer sie war. Schon ehe sie sich plötzlich seitlich verrenkte und er eine kleine Brust sah und das fast ohnmächtig wirkende Profil. Ihre Augen waren geschlossen (Gott sei Dank). Wie in den Boden zementiert stand er da, starrte und starrte, unfähig, den Blick abzuwenden, und Kitty lächelte, ein sehr intimes Lächeln voller tiefer Befriedigung.
Wer auch immer es sein mochte, der sich sonst noch in der Beleuchterkabine aufhielt, er mußte vor ihr knien oder kauern. Eine lebhafte Vorstellung dessen, was der Glückspilz da wohl tat, drängte sich Nicholas auf, und er wurde von einer derart mächtigen Woge der Lust überspült, daß sein Hals trocken wurde und er nach Luft schnappen mußte. Als sich die Woge etwas abgeschwächt hatte, holte er einige Male tief Atem und sann über die extreme Peinlichkeit seiner Lage nach. Dann begann das Geräusch wieder, und er beobachtete, wie Kitty langsam an dem Glas herunterrutschte, wobei ihre Schulterblätter zwei feuchte parallele Spuren hinterließen. Als sie verschwand, drehte sie den Kopf wieder fort und lachte ein rauhes, kehliges Lachen, das sich so ganz anders anhörte als ihr normales Glockengesäusel.
Erleichtert und doch sehr vorsichtig atmete Nicholas aus, obwohl ihm sein Verstand sagte, daß dieses Geräusch kaum wahrnehmbar war (er wunderte sich ohnehin, daß sie das laute Pochen seines Herzens nicht gehört hatte), und dann schlich er auf Zehenspitzen von der Bühne und trug seine pralle Leistengegend zum Klo. Dort hielt er sich länger auf, als es unbedingt nötig gewesen wäre, dachte darüber nach, wie er jetzt wohl am besten vorzugehen hatte, und betete nur, daß Kittys Spielgefährte nicht plötzlich auch pinkeln mußte. Er hatte gerade beschlossen, sich aus dem Haus zu schleichen und noch einmal auf die Straße zu gehen, um dann mit lauten Geräuschen wieder hereinzukommen, als er hörte, wie hinter ihm eine Tür zugeschlagen wurde. Er wartete noch weitere fünf Minuten und ging dann ins Kellergeschoß hinunter.
Als er an der Damengarderobe vorbeikam, hörte er ein Scheppern, als würde jemand mit einer Flasche oder einem Topf hantieren. Nicholas öffnete die Tür. Kitty, von einer apricotfarbenen, hochgeschlossenen Bluse und einem robusten, nein, keuschen, langen Strickrock verhüllt, schnalzte vor Schreck mit der Zunge und beschwerte sich dann: »Du hast mich ganz schön erschreckt.«
»Entschuldige... Hallo.«
»Selber hallo.« Kitty sah ihn an. »Was ist los?«
»Hm?«
»Du wirst doch wohl nicht etwa Halsschmerzen bekommen?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Aber du krächzt.«
»Ach so. Das ist nur der sprichwörtliche Frosch.« Er räusperte sich einmal, zweimal. Dann ließ er spaßeshalber ein Gurgeln hören. Aber sie blieb weiterhin ernst. »Jetzt ist es besser«, meinte er.
»Es hört sich aber noch nicht besser an. Du siehst ein wenig kränklich aus, Nico... irgendwie ausgelaugt.« Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Also, was ist los?«
»Nichts.« Nicholas fälschte sein abruptes Lachen in ein Hüsteln ab. »Dann seid ihr also heute als erste hier? Du und Esslyn?«
Er hatte die Namen automatisch zusammengefügt, weil er fand, es sei angebracht, Unwissenheit zu heucheln und Kitty zu täuschen. Er gratulierte sich selbst zu diesem schlauen Einfall. Aber kaum hatte er das getan, da tauchte ein anderer Gedanke auf. Was war, wenn Kitty tatsächlich mit Esslyn in dem Zimmer gewesen war? Es waren schon seltsamere Dinge vorgekommen. Ehepaare brauchten zuweilen extravagante Orte oder bizarre Spiele, um auf Touren zu kommen. Man mußte ja nur das Stück von Pinter nehmen. Er kommt nachmittags »unerwartet« nach Hause; sie hat ihre Schuhe mit den hohen Absätzen an. Aber das alles war doch bestimmt erst nach Jahrzehnten ehelicher Langeweile nötig. Die Carmichaels waren dagegen vergleichsweise noch keine fünf Minuten zusammen. Kitty sagte gerade etwas zu ihm.
»Oh, Esslyn arbeitet bis halb sechs. Also bin ich in meinem kleinen Suzuki schon etwas früher gekommen. Ich brauche ja immer soviel Zeit, um mich fertig zu machen.« Sie lächelte, und ihre lieblichen Lippen öffneten sich wie Rosenblätter. »Ich dachte mir, daß ich dich bestimmt schon hier antreffe, wenn ich komme.«
»...äh ... nein...«, stammelte Nicholas. »Ich habe versucht, früher zu gehen, aber heute war einer dieser Tage, an denen der Chef besonders aufmerksam ist.«
Nicholas sog die Wirkung des Lächelns ein (ein sanfter, federleichter Schlag in den Solarplexus), und seine Knie wurden weich. Er packte grimmig den Türgriff. Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er den Enthusiasmus, der ihn lange Zeit vor dem Erscheinen anderer ins Latimer geführt hatte. Dann fragte er sich, wie zum Teufel er sich auf der Bühne konzentrieren sollte, wenn er sich so elend fühlte. Mit aller Kraft rief er sich ins Gedächtnis zurück, daß es schließlich bloß Kitty war. Die hübsche, dumme, gewöhnliche Kitty. Ihre enorme Dummheit und die Tatsache, daß sie eine sehr gleichgültige und desinteressierte Schauspielerin war, hätten normalerweise ausgereicht, um ganz sicher zu sein, daß er keinerlei Interesse an ihr hatte. Und wenn sein Gehirn das verstehen konnte, dachte Nicholas, warum sollte er dann nicht auch seine Eingeweide, die sich immer noch rhapsodisch drehten, unter eine ähnlich straffe Kontrolle bringen können?