Alle saßen kerzengerade da. Von einem offenen Streit zwischen dem CADS-Regisseur und seinem Hauptdarsteller hatte man noch nie gehört. Harold gab Esslyn Regieanweisungen. Esslyn tat daraufhin, was er wollte, ganz so, als hätte Harold nie etwas gesagt. Harold ignorierte das. So war es bisher immer gewesen. Nun waren alle Augen auf Harold geheftet, weil jeder ganz genau sehen wollte, was er nun tun würde. Verschiedene Emotionen huschten über seine geröteten Gesichtszüge. Erstaunen, Ärger, Wut und schließlich (nach einem schweren Kampf) Zustimmung.
»Es ist doch wohl klar«, erwiderte er endlich, und überspielte das Unglaubliche, »daß ich nie einen Darsteller dazu treiben würde, etwas zu tun, was seiner Art zu arbeiten völlig zuwider ist. Es würde bei der Aufführung einfach nur hölzern und künstlich wirken und damit jeglicher Überzeugungskraft entbehren.« Und dann ließ er schnell die Frage folgen: »Hat jemand noch eine andere Idee?«
»Was ist denn mit diesen Beuteldingern?« fragte Rosa. »Die, über die wir früher schon einmal gesprochen haben?«
»Sie funktionieren nicht. Oder besser gesagt«, fuhr Harold fort, um sich zu revanchieren, »Esslyn kann nicht damit umgehen.«
»Du ziehst einen Trick wie diesen nicht gleich beim ersten Mal gekonnt ab«, entgegnete Esslyn. »Du mußt so was üben, was ich ja schlecht kann, weil du mir jedesmal, wenn ich dich um etwas bitte, molto costoso ins Gesicht brüllst.«
»Dann mußt du eben durch deine Schauspielkunst das Publikum davon überzeugen, daß du blutüberströmt bist«, sagte Rosa und lächelte süßlich. »Ich bin ganz sicher, wenn das überhaupt jemand kann, dann bist du das.«
»Autsch!« stöhnte Kitty und tauschte wie im voraus vereinbart einen klagenden Blick mit ihrem Ehemann aus. Es war ein komplizierter Blick, der es nicht nur fertigbrachte zu unterstellen, daß Rosa auf das gegenwärtige Glück ihres Ex-Mannes eifersüchtig war, sondern auch, daß sie nicht ganz richtig im Kopf sein konnte. Die Regieassistentin räusperte sich.
»Hoppla«, flüsterte Clive Everard. »Hört das Orakel.«
»Das Problem ist so gut wie gelöst.«
»Vielleicht«, begann Dierdre zögernd, »können wir die Klinge einfach mit Tesafilm umwickeln. Ich bin sicher, das kann man vom Zuschauerraum aus nicht sehen.«
Es trat eine Pause ein, und dann folgte ein tiefer Seufzer von Harold. »Endlich.« Er nickte, ein ironisches, vorwurfsvolles Nicken. »Ich habe mich gefragt, wer wohl der erste sein würde, der auf diese Idee kommt. Hast du etwas Klebeband hier, Dierdre?«
»Oh, ja...« Sie nahm die Klinge von Davids Tablett, hielt sie vorsichtig am Griff fest und trug sie zu ihrem Tisch. Dort stellte sie ihre Tragetasche daneben. Das Tesafilm rollte hinaus, knapp gefolgt von einer Flasche widerwillig getragener Milch. Sie rettete die Milch gerade noch rechtzeitig, setzte sich, nahm das Klebeband und begann daran zu kratzen, um das Ende zu finden. Dann schnitt sie einen Streifen davon ab und legte ihn der Länge nach über die Klinge. Er war zu kurz (sie hätte erst ausmessen sollen), genauso, wie er auch zu schmal war, um den ganzen Stahl zu bedecken. Sie zögerte, um sich zu fragen, ob es wohl nötig wäre, das erste Stück wieder abzuziehen, und dann beschloß sie, sie würde sich nicht trauen, der Klinge zu nahe zu kommen. Schon allein bei dem Gedanken daran fingen ihre Hände an zu schwitzen. Sie fühlte die Hitze in sich hochsteigen und hatte das Gefühl, daß alle sie beobachteten, blickte auf und entdeckte, daß sie sich damit nicht getäuscht hatte.
»Es dauert nur eine Sekunde«, sagte sie betont munter. Das Ende des Tesafilms war verschwunden und sie mußte wieder kratzen. »Eile mit Weile.«
»Ich finde ja«, entgegnete Rosa, »es hilft ungemein, wenn man das Ende des Bandes umknickt.«
»Oh, was für eine gute Idee«, gab Dierdre zurück. »Das muß ich mir merken.« Sie hielt das Rasiermesser hoch, befestigte das Ende des Bandes daran und wand die Rolle mehrmals von oben nach unten um die Klinge, bis diese gut und vollständig bedeckt war. Dann schnitt sie das Band ab. Das Ergebnis war unerfreulich. Uneben und voller Höcker, an einer Stelle türmte sich das Tesafilm sechsmal so dick wie an anderen Stellen, was man in diesem kleinen Theater ganz klar von den Zuschauerrängen aus sehen würde. O Gott, dachte Dierdre, was zum Teufel soll ich jetzt bloß machen? Der Gedanke daran, das Klebeband wieder entfernen zu müssen, erschreckte sie. Außerdem konnte sie das Ende des Klebebandstreifens ohnehin nicht mehr finden.
»Wo liegt das Problem, Dierdre?« David Smy stellte sein Dienstbotentablett ab und richtete einen der kleinen goldenen Stühle auf.
»Es klappt nicht.« Dierdre blinzelte hinter ihren dicken Brillengläsern hervor. »Es war schrecklich, das Zeug drumzuwickeln. Jetzt habe ich Angst, es wieder abzuwickeln, weil ich mich dabei schneiden könnte.«
»Laß mich mal sehen.«
»Sei bloß vorsichtig.«Dierdre gab ihm das Rasiermesser.
»Hast du eine Schere? Nein... eine kleinere.« Als Dierdre den Kopf schüttelte, zauberte David ein Victorinox hervor, ein Schweizer Taschenmesser, und zog ein kleines Paar Klingen heraus. Dierdre beobachtete seine braunen Finger mit den kurzen sauberen Nägeln, die erstaunlich weiße Halbmonde hatten. Er ging derart gekonnt mit allem um, beinahe graziös und ohne eine unsichere oder unnötige Bewegung. Schnipp, schnapp und das Band war ab. Dierdre rollte noch mehr ab. David hielt die Klinge daneben, und schnitt zwei Streifen in Klingenlänge ab, und während Dierdre den Griff hielt, faltete er sie vorsichtig der Länge nach über die Klinge, erst um die eine Seite, dann um die andere. Anschließend rammte er die Klinge heftig in die Soufflierkopie. Sie fiel auseinander. »Das wird reichen.«
»David. So was darfst du nicht sagen. Nicht einmal im Spaß. Wir müssen noch mehr draufkleben.«
»Wenn du darauf bestehst.« Sein kleines Lächeln war beruhigend. »Ich wollte dich bloß auf den Arm nehmen.«
»Das will ich doch hoffen.« Nach ein paar Augenblicken lächelte sie ihn nervös an. David überklebte die Klinge, und diesmal blieb nicht mehr als ein feiner Abdruck zurück, als er sie in das Textbuch preßte.
»Komm schon, Dierdre - hopp, hopp. Wir hätten uns bis jetzt alle schon zehnmal die Kehle durchschneiden können.«
»Entschuldige, Harold.«
»Du gehst erst hin, wenn du soweit bist«, sagte David. »Du willst dich doch von dem nicht unterkriegen lassen. So ein Wichser.« Dann fügte er eilig hinzu: »Entschuldige mein Französisch.«
»Oh, wenn das Französisch war«, flüsterte Dierdre schüchtern, »dann habe ich es nicht verstanden, fürchte ich. Nun, gut... wir wollen mal sehen, ob es klappt.« Sie reichte Esslyn das Rasiermesser, der es ängstlich in die Hand nahm. »Du kannst es ja erst mal an deinem Daumen ausprobieren.«
»Ich werde es sicher erst an dem Daumen von jemand anderem ausprobieren«, antwortete Esslyn kurz und bündig und gab es ihr zurück. Daraufhin demonstrierte ihm Dierdre entgegenkommend, daß das Messer jetzt völlig ungefährlich war. Esslyn entgegnete nur: »Hm«, und fuhr mit der Klinge erst vorsichtig, dann etwas fester über seine Hand. »Scheint in Ordnung zu sein. Richtig... Harold?«
Esslyn wartete, bis sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatte. Dann stellte er sich in der Pose eines Märtyrers mitten auf die Bühne: die Hände vor der Brust gekreuzt, die Augen auf einen großartigen Horizont gerichtet, so als sähe er die ganze Welt. Er deklamierte laut und mit düsterer Stimme: »...Und in der Tiefe deiner Niedergeschlagenheit kannst du zu mir beten... Und ich werde dir vergeben. Vi Saluto f« Dann warf er den Kopf zurück, hielt das Rasiermesser in der rechten Hand und zog es rasch über seine Kehle. Eine ausholende, dramatische Bewegung von einem Ohr zum anderen. Erst herrschte schreckliches Schweigen, dann murmelte jemand: »O Gott.«
»Es funktioniert, nicht wahr?«
»Du kannst das Blut ja förmlich sehen«, quietschte Don Everard.