»Die Leute werden aufschreien.«
Esslyn grinste. Ihm gefiel die Vorstellung, daß Menschen aufschreien würden. Harold wirbelte herum und überraschte sie alle mit einem befriedigten Lächeln. »Ich wußte gleich, daß es klappen würde«, erklärte er, »schon vom ersten Moment an, als mir dieser Gedanke gekommen ist.«
»Ich glaube wirklich, das ist das Geheimnis unseres Erfolgs«, steuerte Nicholas bei, »ein Mann voller Ideen an der Spitze.«
»Nun ja, das kann ich natürlich nicht selber sagen«, meinte Harold, der genau das zwischen den Zeilen von sich behauptete.
»War es nicht Dierdre«, gab David Smy laut zu bedenken, »die daran gedacht hat?«
»David«, flüsterte Dierdre über den Tisch, »laß gut sein. Es ist doch egal.«
»Es war Dierdre«, entgegnete Harold, »die es ausgesprochen hat. Ich habe aber schon vor Wochen daran gedacht, als die Produktion noch in der Planung war. Sie hat ganz einfach meine Idee über den Äther oder ein ähnliches Medium aufgeschnappt und sie ausgesprochen. Und nun, würden die Inspizienten bitte aufhören, sich aufzuspielen, weil wir nämlich endlich weitermachen müssen...«
Aber die Proben wurden ein weiteres Mal unterbrochen, weil Kitty, die jetzt mit weißem Gesicht an ihrem Ehemann hing, die Arme um seine Hüften geklammert und den Kopf an seine Schulter gelehnt hatte, kreischte: »...Es sah so echt aus... es war so beängstigend...«
»Aber, aber, Kätzchen.« Esslyn tätschelte sie, als wollte er ein verängstigtes Tierchen beruhigen. »Da ist nichts, wovor man sich fürchten müßte. Wie du selbst sehen kannst, ist es vollkommen ungefährlich.« Er ließ einen um Entschuldigung bittenden Blick über ihren Kopf hinweg los.
Also, ich wäre der glücklichste Mann auf Erden, dachte Nicholas, wenn sie mal so spielen würde, wenn sie mit mir auf der Bühne steht. Er blickte zu Kittys Liebhaber hinüber, um zu sehen, wie er auf diese kleine Vorstellung reagierte, aber David setzte seine Unterhaltung mit Dierdre fort und bemerkte nichts davon. Nicholas blickte den Rest der Truppe an. Die meisten wirkten unentschlossen, ein oder zwei waren peinlich berührt, Boris schaute ironisch, Harold ungeduldig. Zu Nicholas’ Erstaunen schienen die Venticellis neidisch zu sein. Er war davon überzeugt, daß es sich hierbei nicht um eine amouröse Verstimmtheit handelte. Trotz ihrer Affektiertheit, ihrer Großspurigkeit und ihrer absolut scheußlichen Unterwürfigkeit konnte sich Nicholas nicht vorstellen, daß sie sexuell an Esslyn interessiert waren. Tatsächlich kamen ihm die beiden eher asexuell vor. Spröde, unberührt und vermutlich mehr daran interessiert, Dummheiten anzustellen, als Liebe zu machen. Nein, Nicholas nahm an, daß die beiden einfach bloß verärgert waren, weil das Objekt ihres Kriechertums so grob und undankbar war, öffentlich Zuneigung für jemand anderen zu zeigen.
Dann, als seine Augen weiterwanderten, bekam Nicholas einen Schock. Etwas abseits saß Rosa, die sich offensichtlich unbeobachtet glaubte; sie starrte Esslyn und dessen Frau an. Auf ihrem Gesicht drückte sich blanker Haß aus. Nicht ein Muskel bewegte sich, und ihr Gemütszustand war derart konzentriert, derart extrem, als würde sie eine Maske tragen. Dann aber bemerkte sie Nicholas’ Blick, senkte die verbitterten Augen und wurde sofort wieder sie selbst. So war ihm diese Episode jedenfalls zuerst vorgekommen, doch als Rosa eine halbe Stunde später ihren üblichen hektischen Abgang nahm (der Schal schwebte um ihren Hals, und sie ließ das Skript fallen, warf sich ihren Madame-Ranjewskaja-Mantel um und rief: »Nacht, Nacht, meine Engel«), war er beinahe davon überzeugt, daß er sich das alles bloß eingebildet hatte.
Das Buch kam etwa eine Woche vor der Kostümprobe an. Dierdre fand im Foyer auf dem Boden ein kleines, ordentlich in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen. Es lag direkt unter dem Briefkasten an der hölzernen Fassung der Glastür. Sie drehte das Päckchen um und hielt inne. Auf der Vorderseite standen in handgeschriebenen Großbuchstaben die Worte HAROLD WINSTANLEY. Sie legte es oben auf ihren Korb und machte sich auf den Weg in den Vereinsraum, um ihre beiden Milchflaschen, den Tee und die Zuckervorräte auszupacken. Als sie hereinkam, huschte Riley auf sie zu, um sie zu begrüßen. Sie stellte die Milchflaschen in einen Topf mit kaltem Wasser, dann beugte sie sich vor und kraulte seine Ohren. Er erlaubte ihr das so lange, bis ihm klar wurde, daß sie keine Geschenke mitgebracht hatte; dann streckte er den Schwanz in die Luft und spazierte davon. Dierdre beobachtete traurig, wie er ging, und sie wünschte sich, er wäre nicht so geizig mit seiner Zuneigung gewesen. Nur Avery bekam die ganze Zuwendung - umstreichen, an den Beinen schubbern, kleine »mmrrrrs« der Zufriedenheit -, denn er brachte ihm das Essen mit. Er schleppte immer Fischreste oder »Backen« für den Kater an, die Riley dann von seinem Teller stibitzte, um sie in aller Ruhe zu verspeisen. Dierdre stolperte permanent über die bläulichweiß schimmernden Grätengerüste, die übrigblieben.
Er war ein hübscher Kater. Weiße Brust und Söckchen, zweifarbiger Schnurrbart und eine weiße Schwanzspitze. Der Rest seines Fells war schwarz und hatte früher wie gerade erst geförderte Kohle geglänzt, war aber inzwischen etwas stumpfer und grauer geworden, was ihn ein wenig heruntergekommen wirken ließ. Er war ein Vollblutkater mit einer haarlosen Stelle über dem einen Auge, die jedesmal, wenn sie gerade wieder zugewachsen war, ein weiteres hartes Abenteuer in ihren wunden Zustand zurückversetzte. Er hatte leuchtend smaragdgrüne Augen, und wenn das Theater dunkel war, konnte man diese zwischen den Sitzreihen umherwandern sehen.
Keiner wußte, wie alt er war. Riley war vor zwei Jahren aufgetaucht, als er plötzlich während eines Durchlaufs von Französisch ohne Tränen über die Bühne streunte. Die enorme, fast magische Dramatik seines Erscheinens hatte sofort jeden ergriffen. Er bekam kräftigen Applaus, ein Stück Schellfisch (Dierdre wurde zu Adelaide’s geschickt) und war augenblicklich adoptiert worden. Obwohl er keine Möglichkeit hatte, es in vielen Worten auszudrücken, war es aber nicht das, was er eigentlich gesucht hatte. Denn eigentlich sehnte sich Riley nach einem orthodoxeren Wohnsitz. Er war äußerst enttäuscht, als das Wohnzimmer von Französisch ohne Tränen, kurz nachdem er sich dort eingerichtet hatte, wieder verschwand, nur um einige Wochen später in einer völlig anderen Anordnung wieder zu erscheinen. Das war wirklich nicht sein Ding. Er träumte von einem gewöhnlichen, sogar langweiligen Zuhause, in dem die Möbel blieben, wo sie waren, mit nur einem Menschen, der ihm mehr oder weniger unablässig seine Verehrung bezeugte. Er hatte mehrmals versucht, Avery zu folgen, wenn dieser das Theater verließ, wurde aber immer wieder kurz darauf zurückgebracht. Dierdre, die liebend gerne ein Haustier gehabt hätte, hätte ihn ja mit zu sich nach Hause genommen, aber ihr Vater reagierte sowohl auf Fell als auch auf Federn allergisch.
Nachdem sie jetzt den Tee und den Zucker ausgepackt und die Tassen rausgestellt hatte, machte sich Dierdre auf den Weg in den Zuschauersaal, um die Bühne für den ersten Akt vorzubereiten. Da Nicholas schon da war und seinen »Opernmonolog« durchging, schlüpfte sie leise in die hinterste Reihe und hörte ihm zu. Es war ein kompliziertes Stück, und Nicholas verpatzte es. Er begann mit Verärgerung, brach in der Mitte in ein Kichern von beinahe verrückter Über-drehtheit aus und endete mit einer Bemerkung, die so freudig erregt war, daß sie fast manisch wirkte.
Er hatte es in der vergangenen Woche jeden Abend zu Hause geübt und war sich auf qualvolle Weise bewußt, daß es nicht klappte. Nun pumpte er Begeisterung in seine Stimme: »Erstaunlicher Kunstgriff. Ein Vokalquartett!« Gefolgt von einer getriebenen Erregung: »Immer weiter, weiter und weiter - alle Klänge vervielfachen sich und erheben sich gemeinsam ...« Er rasselte es weiter durch und endete mit einem leeren rhetorischen Ausruf: »Und verwandelt das Publikum in Gott!«
Verzweiflung erfüllte ihn. Nichts als Schwulst. Aber was sollte er machen? Wenn das Gefühl nicht da war, konnte er es nicht einfach anstellen wie ein Tonband. Ein schrecklicher Gedanke, der stets in seinem Hinterkopf lauerte, kroch in sein Bewußtsein. Was war, wenn es sich bei der Premiere auch so trocken und steif anhörte? Ohne Technik würde er sich nur verzweifelt durch den Text hangeln, wie ein Bergsteiger mit schlechtem Gleichgewichtssinn über einen Felsabgrund. Er beneidete Esslyn um die vielen Jahre an Erfahrung, um sein Wissen über die Mechanik der Schauspielerei. Es war typisch für Avery, die Vorstellungen ihres Hauptdarstellers folgendermaßen zu beschreiben: »Ganz wie ein Osterei, Liebling. Nur Bänder und Bögen und kleine Zuckerhäppchen mit einem ziemlich großen Schuß Eitelkeit in der Mitte.« Nicholas war bei dem Gedanken daran, daß er, wenn ihn seine Gefühle verließen, weder Bänder noch Bögen, geschweige denn kleine Zuckerverzierungen aufzuweisen hätte, nicht besonders wohl zumute. Dierdre kam den Gang hinunter.