»Ich nehme an, ihr findet das witzig?«
»Das Witzigste seit der Pest«, antwortete Boris.
»Richtig«, sagte sein Regisseur. »Colin.« Eine hilfreiche Seele wiederholte den Namen, eine andere in den Kulissen und wieder eine in der Garderobe, Und dann war endlich ein feines Echo unter den Brettern der Bühne zu hören.
»Grundgütiger«, grummelte Harold und stampfte kräftig mit dem Fuß auf. »Das ist ja, als würde man im Old Bailey auf den Hauptzeugen warten.«
Colin erschien und hatte einen Holzspan auf seiner Schulter, so als wollte er damit seinen Rang anzeigen. Er trug einen Hammer in der Hand und seinen üblichen Gesichtsausdruck, der dem eines Mannes entsprach, der durch das Geschrei spielender Kinder von seiner ernsthaften Arbeit abgehalten wird.
»Du weißt doch, wie viele Leute dieser Tisch aushalten muß. Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest ihn stabilisieren.«
»Das habe ich auch getan. Ich habe einen Holzblock in jede Ecke, wo die Stelzen sind, genagelt. Ich zeige es dir.«
Colin bahnte sich seinen Weg durch die Darsteller, die auf dem Rücken lagen, hob den Tisch an und wunderte sich: »Na, so was. Irgendein Idiot hat sie wieder rausgenommen.«
»O Gott!« Harold starrte seine Besetzung an; ein oder zwei lachten immer noch leise vor sich hin. »Ihr habt kein Recht, in einem Theater zu stehen. Keiner von euch. Ihr seid noch nicht einmal gut genug, um die Bühne zu putzen. Colin, mach besser noch ein paar Blöcke. Und jetzt laßt uns bitte weitermachen.«
Er ging gerade wieder zu seinem Stuhl zurück, als Clive Everard, der sich nicht einmal darum bemühte, die Stimme zu senken, lästerte: »Dieser Mann könnte nicht einmal seine eigene Pisse anweisen, in einen Gully zu laufen.«
Harold hielt an, drehte sich um und antwortete mit aller Strenge in die schockierte Stille hinein: »Ich hoffe, du machst dir nicht vor, daß du in der nächsten Produktion noch dabei bist, Clive.«
»Aber ich habe mich doch schon als Teljeghin gesehen...«
»Also«, erwiderte Harold, »ich denke, du solltest dich schon mal an die Vorstellung gewöhnen, dich in einem ganz anderen Theater zu sehen, am besten auf einem anderen Planeten. Und nun will ich bis zum Ende des Stückes kommen, und zwar ohne... jede... weitere... Unterbrechung.«
Und sie hätten es auch fast geschafft. Doch leider lagen inzwischen allgemein die Nerven blank. War erst einmal Anstoß genommen worden, gab es den Ärger jetzt hundertfach zurück. Die Requisiten verirrten sich wie verlorene Schafe. Die Kulisse wurde von den Schauspielern angesteckt, und schließlich verließ eine Tür die Bühne genauso gekonnt wie der Schauspieler, der sie gerade hinter sich zugezogen hatte. Als die großen Schlußakkorde der Musik verklangen, versammelten sich die Darsteller in kleinen verzweifelten Gruppen. Harold gesellte sich zu ihnen, nachdem er eine große Geste der Hoffnungslosigkeit vollführt hatte, bei der er seine Hände wie ein königlicher Buchmacher über dem Kopf zusammenschlug.
»Ich kann jetzt keine Bemerkungen machen«, erklärte er resigniert, »ich wüßte auch gar nicht, wo ich anfangen sollte.« Dieses Eingeständnis, das erste, das jemals über seine Lippen gekommen war, schien Harold genauso zu erschüttern wie seine Schauspieler. »Ihr wart alle einer so schlecht wie der andere und eine Schande für die Zunft.« Dann ging er, und schritt in seinen bestickten Regisseurschuhen in den Winter hinaus.
Kaum war er gegangen, entspannte sich die Atmosphäre ein wenig. Und als sich die Spannung gelöst hatte, brach Gelächter aus, und es wurden einige kräftige Beschwerden in der Art laut, was sich Harold eigentlich einbildete, und es wäre doch lediglich ein bißchen Spaß gewesen, um Himmels willen. Schließlich würden sie hierfür nicht bezahlt.
»Ich persönlich«, erklärte Boris, »bin es leid, Heil Harold zu sagen.«
»Mir scheint, als könnte es ihm keiner recht machen«, ergänzte Rosa. »Da könnte man genausogut im Kreml leben.«
»Das würde mich ja alles nicht stören, wenn er wenigstens kompetent wäre«, flüsterte einer der Venticellis.
»Richtig«, stimmte der andere zu. Dann, leise zu Esslyn: »Das Volk revoltiert.«
Es gab noch etwas mehr bolschewistisches Rumoren, als Riley den Gang hinuntergestreunt kam und auf die Bühne sprang. Einigen der Abschlußkläßler, die seine kleinen Boshaftigkeiten noch nicht kannten, und Avery, der damit Erfahrung hatte, entfuhr ein: »Aahhh...«
Der Kater schlich in einer geduckten Haltung. Sein Hinterteil zitterte, und seine Schultern zogen sich zusammen und begannen dann zu vibrieren. Er machte einige laute Schluckgeräusche, gab dann ein würgendes Husten von sich und erbrach einen glitzernden Haufen Haut und Knochen, Fell und Blut auf die Bretter und ging ab. Es folgte ein langes Schweigen, das schließlich von Tim gebrochen wurde.
»Ein Kritiker«, meinte er. »Das ist genau das, was wir brauchen.«
»Also schön«, befand van Swieten. »Laßt uns doch mal die gute Seite an der ganzen Geschichte sehen. Jeder weiß, daß eine schlechte Kostümprobe eine großartige Premiere verheißt.«
Über seinem Kopf, über dem Schnürboden, dem Theaterdach, dem Nachthimmel und dem grenzenlosen tiefschwarzen Bogen der himmlischen Weiten spielte Thalia, die Muse der Komödie, Halma mit den Eumeniden. Als ihr nun ein fehlgeleiteter Windhauch diese Worte ins Ohr wehte, wurde sie von einem hysterischen Gelächter überwältigt, und man mußte sie von ihrer Wolke in die nächste Sanitätsstation tragen.
Zwischenspiel
(Samstag morgen, Causton High Street)
Causton war zwar ein netter Ort, aber recht klein. Menschen, die meinten, es ginge nicht ohne ihr Sainsbury oder Marks and Spencer’s, mußten nach Slough oder Uxbridge fahren. Jene, die zu Hause blieben, wurden dafür gekonnt, wenn auch nicht gerade aufregend bedient. In der Hauptstraße gab es einen Supermarkt und einen Fischhändler, einen Milchladen, eine Bäckerei und einen Obst-und Gemüsehändler mit einer sehr bescheidenen Auswahl. Es gab zwei Metzger (darunter ein erstklassiger, der das Fleisch gut abhing und es auf französische Art vorbereiten konnte), McAndrews Apotheke, in der auch Parfüm und Kosmetika im Angebot waren, zwei Banken und einen Friseur sowie hübsche Kreationen von Doreece. Und nicht zuletzt waren da noch zwei Beerdigungsinstitute, eine Buchhandlung, der Weinhändler, die Post und eine kleine Zweigstelle der Bibliothek.
Causton beherbergte auch drei Lokale. Adelaide, die jede nur bekannte Kombination von Gebratenem hinter ihrer Phalanx aus zischenden Teekesseln produzierte. Dann das Soft Shoe Café, in dem hausgebackener Kuchen serviert wurde, Tee mit Sahne, anmutige dreieckige Sandwiches, deren Kruste abgeschnitten war, und natürlich Frühstückskaffee. Schließlich gab es auch eine Kneipe, den Jolly Cavalier (ehemals Gay Cavalier), der Hirtenpastete und Goujons im Korb anbot. Und dann war da ja noch das Theater.
Samstag, der siebzehnte November, war ein strahlend schöner Tag. Durch den Frost funkelte der Bürgersteig wie Kristall, und die Menschen, die flotten Schrittes darüberliefen, wurden von dem weißen Dunst ihres Atems verfolgt. Ein Weihnachtschor schmetterte Lieder. Dierdre und ihr Vater standen Arm in Arm draußen vor der Fischhandlung. Sie machte sich Sorgen wegen der kalten Luft, die in seine Brust strömte, aber er schien sehr ruhig und gesammelt zu sein und hatte so dringend nach draußen gewollt, daß sie ihn in zwei Schals und eine Wollmütze gepackt hatte, und nun waren sie hier. Mr. Tibbs hielt den leeren Einkaufskorb fest und sah seine Tochter an, in einer Mischung aus Stolz über das Erreichte, Angst davor, von ihr getrennt zu werden, und einfach nur Liebe, wie man sie auf dem Gesicht eines Labradors in einer ähnlichen Lage finden könnte. Sie studierten gemeinsam die Auslage.
Rote Meerbarben und ein großer Steinbutt, von zwei Krebsen flankiert, lagen auf einem Hügel aus blaßgrauem Eis. Bescheidenere Wesen lagen, Nase an Schwanz, auf weißen Tabletts und hatten Petersiliensträußchen aus Plastik in den Mäulern. Mr. Tibbs betrachtete dieses maritime Füllhorn mit tiefem Interesse. Er aß Fisch sehr gern. Dierdre öffnete ihren Geldbeutel und gestand sich schuldbewußt ein, daß er, wenn sie nicht mit dem Latimer verbunden gewesen wäre, für den Rest seines Lebens jeden Tag Fisch hätte essen können.