»Sieh dir das mal an«, rief er einen Moment später Tim zu, der etwas auf dem Gasbrenner in dem Kabuff im hinteren Teil des Ladens umrührte. »Ein ab getrennter Kopf steht unter Kampfsport.«
»Ich bin nicht sicher, ob Kampfsport eine völlig unangemessene Bezeichnung für Murdoch ist«, entgegnete Tim und führte seinen Löffel an die Lippen.
»Ich weiß nicht, wieso du in dieser affektierten Weise rührst und probierst«, schrie Avery und kam in das Kabuff. »Wir wissen doch alle, auf welche geschickte Art Mr. Heinz mit Tomaten umgeht.«
»Du hast gesagt, ich könnte zu Mittag essen, was ich will.«
»Da muß ich wohl verrückt gewesen sein. Ein Lorbeerblatt würde zumindest einen Hauch von Geschmack hinzufügen.«
»Also gut, also gut.«
»Oder etwas Joghurt.«
»Mach doch kein Essen daraus.«
»Keine Gefahr, Entchen.« Beide mußten lachen. »Was ist auf dem Brötchen?«
»Brunnenkresse und Bresse bleu. Und da sind auch ein paar Walnüsse. Du kannst den Chablis aufmachen, wenn du willst.«
»Welchen?« Avery begann, Weinflaschen aus dem Weinregal unter der Spüle hervorzuholen.
»Den Grossot. Und ruf Nico.«
»Arbeitet der denn nicht?« Avery öffnete die Flasche und schob dann den dicken Chenillevorhang zur Seite und brüllte die Treppe hinauf.
»Er hat gesagt, er könnte sich so kurz vor der Premiere nicht konzentrieren.«
»All diese leeren Regale. Großbritanniens Hausfrauen sind sicher ganz aus dem Häuschen. Nico...«
»Wem hast du vorhin eigentlich zugewunken?«
»Wem?« Avery stutzte. »Ach ja. Der armen alten Dierdre und ihrem Papa.«
»Gott, was für ein Leben. Versprichst du, mich zu erschießen, wenn ich mal so werde?«
Diese beiläufige Erwähnung, daß sie noch zusammen sein würden, wenn Tim alt und grau war, erfüllte Avery mit einer schwindelerregenden Freude, und er holte tief Atem und antwortete frisch: »Ich werde dich schon lange, bevor du so wirst, erschießen, wenn du noch mehr von diesem Dreck in meine Küche bringst.«
Auf einmal war das klappernde Geräusch von Tritten zu hören, und Nicholas erschien. »Was gibt es zu essen?«
»Käse und Wein«, antwortete Tim. »Du wärst besser oben geblieben, glaub mir.«
»Ich dachte, ich hätte etwas Leckeres gerochen.«
»Siehst du«, meinte Tim, »noch jemand mit einer Nase für Sonderangebote.«
»Eine so gute Nase wie Dostojewski für einen todsicheren Tip.«
»Was für ein kluges Köpfchen.«
»Das hat sich schon rumgesprochen.«
»Sei ruhig«, sagte Tim, »wir bringen Nicholas in Verlegenheit.«
»Nein, das tut ihr nicht«, antwortete Nicholas ehrlich, »aber ich stehe kurz vorm Verhungern.«
»O Gott...« Eine Frau, die einen zerdrückt aussehenden Hut trug, starrte neugierig durch das Fenster. »Nico, lauf und mach den Fensterladen zu, das ist eine Nervensäge. Und dreh das Schild um. Ich kenne sie schon lange. Wenn die erst mal hier drin ist, kriegen wir sie nicht wieder raus.«
Als Nicholas zurückkam, fügte Avery hinzu: »Sie ist sehr religiös.«
»Offensichtlich. Aus welchem Grund sonst sollte jemand einen solchen Hut tragen?«
»Weißt du«, sagte Avery anerkennend, »ich denke, aus dem Jungen können wir noch etwas machen. Möchtest du ein Glas Wein haben, Nico?«
»Wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
»Oh, sei nicht so dumm«, entgegnete Avery und ließ den Chablis in drei Becher platschen. »Ich hasse Leute, die solche Floskeln gebrauchen. Das ist nämlich genau die Sorte, die sich überhaupt nicht darum schert, wie viele Umstände du ihretwegen hast.«
»Wer?«
»Na, die da draußen. Die kommt angerauscht und fragt mich, was ich über die spanischen Erbfolgekriege weiß. Ich sage, absolut gar nichts. Ich bin ja den ganzen Tag noch nicht aus dem Laden gekommen.« Avery sah seine Gefährten an. »Gelächter. Ich dachte, die hätten nie aufgehört.«
»Angefangen.«
»Mit was?«
»Der Witz geht so«, erklärte Nicholas geduldig. »Gelächter. Ich dachte, die hätten noch gar nicht angefangen.«
»Du nimmst mich auf den Arm.« Nicholas streckte die Hand nach einem zweiten Brötchen aus und bekam einen Klaps auf die Finger. »Und iß nicht wie ein Schwein.«
»Erwähne bitte keine Schweine in meiner Gegenwart. Oder irgendein anderes Fleisch.«
»Du meine Güte, er ist zum Vegetarier geworden.« Avery wurde bleich. »Ich wußte doch, daß ihm diese Bohnen irgendwann mal zu Kopf steigen würden.«
»Das würde sich anders äußern«, sagte Tim. »Was ist los, Nicholas?«
»Das Premierenlampenfieber, möchte ich wetten«, vermutete Avery. »Wenn du Angst wegen deines Texts hast, höre ich dich ab, sobald wir den Laden geschlossen haben.«
Nicholas schüttelte den Kopf. Er kannte seinen Text und hatte keine Angst mehr (wie noch in Hexenjagd), daß er aus seinem Gedächtnis verschwinden würde, sobald er auf die Bühne ging. Was ihn verstörte und aufwühlte, war vielmehr das, was er von der Premiere träumte. Oder seine Träume überhaupt. Er war inzwischen daran gewöhnt, daß er vor der Spielzeit eines Stücks Alpträume hatte, genauso übrigens wie die meisten seiner Schauspielerkollegen. Sie träumten, sie hätten die falsche Rolle gelernt oder ihr Kostüm sei verschwunden oder sie würden die Bühne eines komplett anderen Theaters betreten oder (sehr üblich) sie würden in einem Bus oder in einem Auto sitzen, das immer wieder an dem Theater vorbeifuhr und einfach nicht anhielt. Nicholas’ Traum fiel in diese letzte Kategorie, bloß daß er mit eigener Kraft zum Latimer fuhr. Auf Rollschuhen. Er war spät dran und flog dahin, die Causton High Street hinab, und wußte, daß er es nur dann noch schaffen könnte, wenn er durch den Metzgerladen fuhr. Denn wie hart er auch immer dagegen ankämpfte, seine Füße würden ihn auf jeden Fall dorthin bringen.
In dem Laden hatte sich alles verändert. Er war nicht mehr klein und mit bunten Plakaten tapeziert, sondern riesig und höhlenartig; ein großes Warenhaus mit einer Reihe hängender Kadaver nach der anderen. Als Nicholas in aller Eile die Gänge auf und ab fuhr, um den Weg nach draußen zu finden, fuhr er an Hunderten von abgezogenen Hasen vorbei, deren Köpfe in besudelten Papiertaschen steckten, an Lämmern mit Halskrausen um ihre gerade enthaupteten Hälse und an riesigen Bergen von rotmarmoriertem Fleisch, in das Stahlhaken gerammt worden waren. In Angstschweiß gebadet wachte er auf und schien immer noch den Gestank von Blut und Sägemehl in der Nase zu haben. Seit einer Woche träumte er diesen Traum nun jede Nacht. Er betete zu Gott, daß er ihn nie wieder träumen müsse, wenn die Premiere vorbei war.
Er erzählte ihn den beiden zwar mit einem heiteren Unterton, aber Tim spürte sofort das darin enthaltene Unbehagen. »Gut«, sagte er, »es sind ja nur noch zwei Nächte. Und hab keine Angst vor Montag, Nico. Du wirst ganz hervorragend sein.« Nicholas sah nun schon nicht mehr ganz so blaß aus. »Avery war gestern abend in meiner Kabine, und er hat bei deiner Sterbeszene geweint.«
»Ohhh!« Nicholas’ Gesicht war ekstatisch. »Ist das wahr, Avery?«
»Das kam hauptsächlich wegen der Musik«, entgegnete Avery, »also hast du keinen Grund, überheblich zu werden. Obwohl ich glaube, daß du eines Tages, wenn du sehr hart arbeitest, wirklich gut werden könntest. Natürlich würde sich gegen Esslyn jeder wie der neue Laurence Olivier ausnehmen. Oder auch der alte, je nachdem.«