»Er ist dermaßen überzogen«, klagte Tim. »Besonders in der Don-Giovanni-Szene.«
»Absolut«, rief Nicholas, und Tim beobachtete mit Freude, daß wieder etwas Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. »Das ist meine Lieblingsstelle: >Machet dieses e-zu einem e-Gott in e-meinem Ohr. Genau e-diese eine.. .<« Seine Stimme triefte vor Spaghettiakzent. »>E-gebbe Er das e-mirr ...<«
»Oh! Darf ich Gott spielen?« bat Avery. »Bitte.«
»Warum nicht?« sagte Tim. »Warum sollte es heute anders sein?«
Avery kletterte auf einen Stuhl und deutete mit einem dicken Blakeschen Finger auf Nicholas. »Nein... dich brauche ich nicht, Salieri. Ich habe... Mozart!« Dämonisches Gelächter erklang, und er kletterte wieder vom Stuhl, wobei er sich vor Lachen die Seiten halten mußte. »Ich habe meinen Beruf verfehlt, daran besteht kein Zweifel.«
»Findet ihr nicht auch«, erkundigte sich Nicholas, »daß an dieser Kostümprobe etwas komisch war?«
»Man verleihe diesem Mann den Barbara-Cartland-Preis für Untertreibung.«
»Ich meine komisch im Sinne von seltsam. Ich kann nicht ganz glauben, daß all diese Mißgeschicke Unfälle waren.«
»Oh, ich weiß nicht so recht. Es gibt eben zuweilen solche glanzvollen Abende wie jenen«, widersprach Tim. »Erinnere dich mal an die Premiere von Gaslicht.«
»Und die Everards. Sie werden immer überheblicher«, fuhr Nicholas fort. »Diese Bemerkung über den Gulli. Ich weiß nicht, wie sie das wagen konnten.«
»Sie wagen es, weil sie unter Esslyns Schutz stehen. Obwohl ich sagen muß, daß es mir ein absolutes Rätsel ist, was er an ihnen findet.«
»Erzähl mir bloß nichts«, beklagte sich Nicholas mit einem schmollenden Unterton, »über Geheimnisse.«
»Du wirst doch jetzt nicht etwa wieder davon anfangen«, stöhnte Avery.
»Entschuldige, aber ich sehe nicht ein, warum ich nicht mehr davon anfangen soll. Ihr habt versprochen, mir von eurem Geheimnis zu erzählen, wenn ich euch meines sage.«
»Und das werde ich auch tun«, versprach Tim. »Noch vor der Premiere.«
»Aber vor der Premiere ist jetzt.«
»Wir sagen es dir, wenn es soweit ist«, erklärte Avery, »und das ist ein Versprechen. Aber du darfst es auf keinen Fall weitererzählen.«
»Das ist gemein. Ich habe euch doch auch vertraut, und ihr habt dichtgehalten... oder etwa nicht?«
»Natürlich«, versicherte ihm Tim sofort, aber Avery schwieg. Nicholas sah ihn mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an. Averys wäßrig blaue Augen wanderten unruhig herum, blieben an den restlichen Käsekrümeln hängen, den Walnüssen, an allem anderen, nur nicht an Nicholas, der ihn mit einem direkten Blick musterte.
»Avery?«
»Na ja...« Avery lächelte ein wenig verschämt. »Ich habe es nicht wirklich jemandem erzählt. Sozusagen.«
»O Gott, was meinst du mit >sozusagen<?«
»Ich habe so eine Art Bemerkung gemacht... aber nur gegenüber Boris. Er ist ja die Diskretion selbst, wie ihr wißt.«
»Boris? Da hättest du auch gleich Flugblätter drucken und sie auf der High Street verteilen lassen können!«
»Das ist aber noch lange kein Grund, in diesem Ton mit mir zu reden«, schrie Avery genauso laut. »Wenn die Leute nicht wollen, daß man es herausfindet, dann sollten sie eben nicht so unvorsichtig sein. Und abgesehen davon, du mußt gerade reden. Wenn du es nicht gleich bei der ersten Gelegenheit ausgeplaudert hättest, wüßte niemand etwas davon.«
Das war so offensichtlich wahr, daß Nicholas nichts einfiel, was er dagegen hätte ein wenden können. Wütend schob er seinen Stuhl zurück und klapperte die Treppe hinauf, ohne sich auch nur mit einem Wort für das Essen zu bedanken.
»Manche Leute«, setzte Avery an und blickte nervös über den Tisch. Aber Tim war bereits dabei, die Gläser und die Teller abzuräumen und sie in die Spüle zu stellen. Und in der Art, wie er seine Schultern hielt, aber auch in seiner steifen, abweisenden Wirbelsäule, lag etwas Verächtliches, das vor weiteren Annäherungsversuchen warnte.
Der arme Avery, der seine unvorsichtige Zunge verfluchte, räumte auf und lief geschäftig hin und her, wobei er jedoch für den Rest des Nachmittags lieber auf Abstand blieb.
Colin Smy befestigte neue Holzblöcke an dem Tapeziertisch, und Tom Barnaby malte den Kamin an. Es war wirklich ein herrliches Gebilde, das Colin aus einem zerbrechlichen Holzrahmen gezimmert und mit dickem Papier bedeckt hatte. Der Kamin war mit Wirbeln und Schleifen, mit Arabesken und Bändern dekoriert. Und er sah schon jetzt, selbst ohne die Wirkung des Lichts, beeindruckend aus. Tom hatte lange und geduldig Farben gemischt, bis er genau das richtige feine Ziegelrot gefunden hatte, das zusammen mit den Spiralen aus Beige und blassem Grau einen wunderbaren Marmoreffekt erzeugte. (In der Penguin-Ausgabe von Amadeus wird der Kamin als golden beschrieben, aber Harold hatte ihm vorher erklärt, daß er hoffte, Tom hätte ein bißchen mehr drauf, als nur die Ideen anderer Leute sklavisch genau zu kopieren, vielen Dank.)
Obwohl Barnaby gewohnheitsmäßig murrte, hatte es in den vergangenen fünfzehn Jahren nur sehr wenige Produktionen gegeben, denen er nicht schließlich doch ein oder zwei Stunden widmete, und zuweilen hatte er sich dafür sogar von seinem geliebten Garten losgerissen. Als er sich jetzt in der Werkstatt umsah, erinnerte er sich mit besonderer Freude an eine geschnittene Gartenhecke, ganz in Silber und Grün, die den Wald im Sommernachtstraum dargestellt hatte, und auch daran, wie sie im künstlichen Mondlicht geschimmert hatte.
Barnaby war durch seine beiden Freizeitbeschäftigungen sehr ausgefüllt. Selbstanalyse lag ihm nicht, denn er glaubte, daß das Resultat aufgrund der im Menschen eingebauten Fähigkeit zum Selbstbetrug notwendigerweise falsch oder zumindest ungenau sein müßte. Dennoch konnte auch er nicht anders, als die Diskrepanz zwischen seiner fruchtbaren Freizeit und der meist trockenen Arbeitszeit zu beobachten und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Das sollte nicht etwa heißen, daß in seinem Beruf Vorstellungskraft nicht gefragt gewesen wäre: Die besten Polizisten hatten stets Phantasie besessen (aber nicht zuviel) und wußten auch, sie einzusetzen. Die Ergebnisse jedoch, zu denen es kam, wenn diese Phantasie dann angewandt wurde, waren nur schwer mit denen zu vergleichen, die er bei seiner gegenwärtigen Beschäftigung erzielte.
Wenn er in seinem Beruf versagte, würde der Fall als eine Menge von Daten betrachtet, die auf einen glücklichen Querverweis von einem künftigen, weitsichtigeren Konstabler warteten, der auf eine Beförderung aus war. Wenn er dagegen erfolgreich war, endete der Verbrecher eingekerkert in der einen oder anderen Institution, während Barnaby eine flüchtige Befriedigung erlebte, ehe er zum zigtausendsten Mal einem weiteren Verbrechen gegenüberstand, dem Schlimmsten also, was die Menschen zu bieten hatten. Wenn man da noch einen schlechten Tag erwischt hatte, dann konnte man sich wirklich ganz erbärmlich fühlen.
Daher brauchte sich keiner darüber zu wundern, dachte er nun, daß er in der wenigen Zeit, die ihm für sich blieb, Bühnenbilder malte oder in seinem Garten arbeitete. Dort wuchsen die Dinge wenigstens in Schönheit heran, blühten, verwelkten und starben alle zu ihrer vorgesehenen Zeit. Und selbst wenn die unberechenbaren Launen der Natur sie alle vor ihrer Zeit dahinrafften, dann tat sie es wenigstens ohne böse Hintergedanken.
»Das hast du wirklich toll gemacht, Tom.«
»Meinst du?«
»Unser Führer wird entzückt sein.«
Barnaby lachte. »Ich habe es nicht für ihn getan.«
»Wer von uns tut das schon?«
Sie arbeiteten in einträchtigem Schweigen, umgeben von Fragmenten einer fremden Welt. Da war die Bosky-Welt (getüpfelte Giftpilze aus Die Kleinen in den Wäldern), die Chintzwelt (Mord im Pfarrhaus) und die Welt der blassen Chinoiserie (Das kleine Teehaus - Papierwände). Barnaby sah auf und erhaschte einen Blick aus den scheuen Augen einer vermenschlichten Gans, die durch den Rahmen einer gläsernen Schiebetür blickte (Heufieber).