»Ein paar... « Harold schritt mit ihr zur Glastür des Latimer. »Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, meine Liebe, wird wesentlich länger als ein paar Minuten dauern.«
Als das Mädchen ihm in das Foyer folgte, lachte es und erkundigte sich: »Gehört die Ihnen?« Dabei deutete sie mit dem Kopf auf die Taube. Harolds Lippen wurden schmaler. Ms. Plume öffnete die kleine Ledertasche, die an einem dünnen Riemen quer über ihre Brust hing. Harold, der davon ausging, daß es sich hier um eine Handtasche handeln mußte, beobachtete etwas verwirrt, wie sie eine Lasche öffnete, einen Knopf drückte und eine Kassette einlegte. Er fing sofort an zu sprechen. »Ich dachte zum ersten Mal daran, Ama...«
»Warten Sie, ich muß erst zurückspulen.«
»Oh.« Beleidigt stolzierte Harold zu der Tafel mit den Fotos rüber und blieb mit einer besitzergreifenden Geste dort stehen; er hatte einen Arm über den oberen Rand der Tafel gelegt. »Ich dachte - wenn Ihr Kollege auftaucht - könnten wir vielleicht hier die ersten Fotos machen.«
»Keine Bilder.«
»Was?«
»Es ist Samstag. Da ist keiner frei.« Sie warf ihr langes blondes Haar zurück. »Hochzeiten, Hundeshows, Pudding und Pastete. Weihnachtsfeier der Pfadfinder.«
»Ich verstehe.« Harold verkniff sich gerade noch eine scharfe Entgegnung. Er wollte sich die Presse schließlich nicht zum Feind machen. Und er hatte ja eine ganze Menge Fotos dabei, einschließlich eines von sich selbst, gehüllt in einen Davidoffschen Schleier, wie er Nicholas in Die Nacht muß kommen Regieanweisungen erteilte.
Ms. Plume streckte ihm ein Mikrophon, das nicht größer als eine Zahnbürste war, entgegen und begann: »Aus Ihrem Brief habe ich entnommen, daß das die neunzehnte Produktion im Latimer ist?«
Harold lächelte und schüttelte den Kopf. Es gab noch sehr viel Grundlegenderes zu erklären, bevor sie darüber reden konnten, welchen exakten Platz Amadeus im Winstanley-Pantheon einnehmen würde. Er holte tief Luft. »Ich wußte schon immer«, begann er, »daß es mir bestimmt war...«
»Eine Sekunde.« Sie sprang auf die Straße hinaus, sah sich in beide Richtungen um und kam dann wieder zurück. »In der Redaktion sind die ziemlich sauer, wenn ich einen Strafzettel kassiere.«
»Ich sagte...«
»Sind die Programmhefte eigentlich schon da?«
»Welche Programmhefte?«
»Für Amadeus natürlich.«
»Das möchte ich doch hoffen. Am Montag ist schließlich die Premiere.«
»Kann ich eines haben?«
»Was... jetzt?«
»Nur für den Fall, daß ich plötzlich lossausen muß. Um die Namen richtig zu schreiben - das ist doch das Wichtigste, nicht war? Bei Laienspielgruppen.«
Laienspielgruppen! Harold ging zu dem Aktenschrank und nahm verärgert wahr, daß es, so wie die Dinge liefen, vielleicht eine gute Idee wäre, seine Lehrjahre zu überspringen. Er nahm zwei Premierenkarten aus der Kasse und legte sie in das Programmheft. Dann fragte er: »Ist Ihnen das Stück eigentlich bekannt?«
»Das will ich doch meinen, ich habe es im Nationaltheater gesehen. Dieser Simon Callow. Ganz toll.«
»Nun, natürlich haben Peter Hall und ich uns dem Text von einer vollkommen anderen Seite genähert...«
»Haben Sie Eine Chance unter Millionen gesehen?«
»Was?«
»Im Fernsehen. Simon Callow. Und Faust. In einer Szene sind sie alle total nackt.«
»Ich fürchte, ich...«
»Ganz toll.«
»Sie scheinen sehr jung zu sein«, bemerkte Harold nicht ohne eine gewisse Spitze, »ich meine, für eine Reporterin.«
»Ich bin noch Lehrling.« Die Geringschätzigkeit, die in diesem Wort lag, wurde noch gesteigert, als sie hinzufügte: »Ich bekomme immer die kurzen Texte.«
»Sehen Sie, wenn wir vielleicht weiter...«
Eine schwarzgelb gemusterte Gestalt schaute zur Tür hinein. Das Mädchen stieß einen gellenden Schrei aus und flog förmlich über den Teppich.
»Ich komme schon... Geben Sie mir keinen Strafzettel... bitte... Presse. Presse!«
Sie schwenkte ihr Mikrofon und rannte auf die Straße, als das phlegmatische Profil nicht auf ihre Worte reagierte. Harold rannte ihr nach und holte sie ein, als sie gerade in ihr Auto stieg. Sie kurbelte das Fenster hinunter. »Entschuldigen Sie, es war ein wenig rasch.«
»Da sind zwei Eintrittskarten. Sie liegen im Programm.« Er ließ es auf ihren Schoß fallen, als sie bereits den ersten Gang einlegte. »Erste Reihe. Versuchen Sie doch bitte zu kommen...«
Auf der Rückfahrt nach Slough fuhr der Lehrling des Observer in eine Parkbucht, tauschte das Tonband von Bros gegen The Wedding Present aus und sah in ihren Terminkalender. In einer halben Stunde eröffnete Honey Rampant, die TV-Berühmtheit, ein Gartenzentrum. Vermutlich gab es dort kleine Häppchen und Knabbereien, und daher entschloß sich Ms. Plume, direkt dort hinzufahren, statt irgendwo anzuhalten und sich ein Sandwich zu kaufen. Bevor sie losfuhr, zerriß sie die Karten für Amadeus in der ersten Reihe, warf sie aus dem Fenster und verpaßte dadurch den Knüller ihres Lebens.
Die Premiere
Alles war bereit. Überprüft und nochmals überprüft. Dierdre schickte ihre jungen Helfer los, um etwas Orangensaft oder einen Kaffee zu holen, und sie ließ Colin das Klavier aufstellen. Es war schon nach halb, und das Summen einer aufgeregten Unterhaltung drang aus den Garderoben nach oben.
»Wir können nur noch beten und hoffen«, informierte Boris jeden.
»Ich dachte, du wärst Atheist.«
»Niemand ist vor einer Premiere Atheist, mein Liebling.«
»Wo steckt bloß Nicholas?«
»Der ist doch sonst immer schon Stunden vor allen anderen hier.«
»Jemand hat meinen Augenbrauenstift geklaut.«
»Ich habe meinen Text vergessen. Ihr müßt alle für mich einspringen.«
»Hat jemand meine Strümpfe gesehen?«
»Ich habe gehört, daß Joyces Tochter kommt.«
»O Gott. Nun, ich hoffe, sie behält ihre Meinung für sich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was sie über Der kleine Eckladen gesagt hat.«
»Ich dachte damals, Harold gerät in eine Erdumlaufbahn.«
»Ich meine, keiner hat ja etwas gegen konstruktive Kritik.«
»Du hast meine Strümpfe.«
»Nein, hab’ ich nicht. Das sind meine.«
»Wenn irgendein Möbelstück heute zusammenbricht, dann falle ich tot um.«
»Das sind nicht deine. Da, das ist der Flecken, wo ich den Kaffee drübergekippt habe.«
»Wir sind fast ausverkauft.«
»Oh, das wird den Meister aber freuen: >Wo ein Sitz ist, da ist auch ein Hintern, Kinder.<«
»>Und ein Kniefall der versammelten Massen.<«
»Es ist schon fast Viertel vor. Wo zum Teufel kann denn Nicholas bloß stecken?«
Nicholas hatte sich aus dem faszinierendsten aller Gründe verspätet. Tim und Avery hatten ihm gerade ihr Geheimnis eröffnet, und er war derart aufgeregt und alarmiert, daß er in der Beleuchterkabine geblieben war und sie bis zur letzten Sekunde ausgequetscht hatte. Das waren die Fakten: Tim entwarf für jede Produktion seine eigene Beleuchtung. Ihm hatte sein Plan für Amadeus besonders gut gefallen: Bernsteingelb und Rosa für Schönbrunn, Schatten hinter den flüsternden Venticellis, weiches Violett, wenn Amadeus stirbt. Harold wollte das natürlich, wie immer, alles ganz anders haben. (»Wer würde das denn so episch gestalten? Nein, ich meine es ernst. Ich möchte das wirklich mal wissen.«) An jenem Abend hatte Tim zum ersten Mal das Licht nach Harolds Vorstellungen gesetzt, und als sie später nach Hause fuhren, brach Avery in Tränen aus und schluchzte, die wunderschöne Bühne sähe jetzt aus, als wäre sie ein Teil der Abwasserkanalisation, nachdem ihr Spitzenprodukt im Klo runtergespült worden war.
Das war der Moment, in dem Tim die Nase endgültig voll hatte und seinen Entschluß faßte. Er würde ganz einfach bei der Premiere wieder seine eigene Beleuchtung ins Spiel bringen. Wenn der Vorhang erst einmal oben war, würde weder Harold noch irgend jemand sonst etwas dagegen unternehmen können, und Tim wohl kaum während der Pause eine Szene machen. Natürlich würde es das Ende seiner Zeit im Latimer bedeuten, aber beide hatten sich damit abgefunden und bereits ihre Fühler nach einer Gruppe in Uxbridge ausgestreckt. Sie waren am Sonntag nachmittag heimlich ins Theater gekommen, um alles wieder neu einzurichten und ihren Plan durchzugehen.