Nun kam Nicholas in die Garderobe. Er platzte vor Informationen, mit denen er noch nicht hatte rausrücken können, als er sich in das kleine Eckchen quetschte, das noch frei war. Um ihn herum hatten die Darsteller schon fast alle ihre Kostüme an. Van Strack zog seine weiße Strumpfhose an, David Smy kämpfte mit seiner Krawatte, die Venticellis - in ihren Capes und Masken wirkten sie eher wi? Fledermäuse und nicht wie Insekten - wirbelten mit einer aufgesetzten und ungesunden Begeisterung herum. Die Luft roch nach Puder, Rasierwasser und Haarlack. Nicholas zog sein spitzenbesetztes Hemd an, nahm eine Tube Camera Clear, trug etwas davon auf und beobachtete, wie sich seine blasse Gesichtsfarbe in einen warmen Pfirsichton verwandelte. Er trug nur sehr wenig Make-up auf und erinnerte sich dabei an sein Debüt in Hexenjagd, wo er mit tiefen Stirnfalten und schneeweißen Haarsträhnen auf die Bühne gegangen war.
In einer anderen Ecke des Raums puderte Esslyn gerade seine Perücke, und Nicholas, der das Konterfei des anderen Mannes im Spiegel sah, wurde auf unangenehme Weise an seine hoffnungslose Schmallippigkeit erinnert. Hinter Nicholas stolzierte Kaiser Joseph, gewandet in weißen Satin und mit reichlich Juwelen verziert, wie eine glitzernde Schnecke langsam auf und ab. Nicholas stellte sich vor, wie sich seine kleinen Lippen mit dem dick aufgetragenen Rouge spitzten und dann das, was einmal sein Geheimnis gewesen war, in das kollektive Ohr der Truppe flüsterten.
Esslyn sah, abgesehen von seinen unsichtbaren Hörnern, sehr zufrieden mit sich aus. Er erinnerte an einen Kater, der einen besonders saftigen Kanarienvogel verschlungen hatte. Er hob die Hand und schob seine Perücke zurecht, dabei sah Nicholas seine Ringe funkeln. Er trug sechs Stück. Die meisten waren mit Steinen besetzt, und einer hatte ganz gemeine kurze Dornen und saß wie ein kampfbereites Babywildschwein auf seinem Finger. Jetzt schob er eine Dose Cremine, die die Kühnheit besaß, ihm im Weg zu sein, zur Seite und hob an zu sprechen.
Schon als er begann, wußte Nicholas, daß ihm das, was der Mann zu sagen hatte, gar nicht gefallen würde. In seiner Stimme schwang ein mit Boshaftigkeit gepaarter Hochgenuß. Er redete über Dierdre. Es ging um etwas, das sie ihm im Vertrauen gesagt hatte, was er aber zu ergötzlich fand, um es für sich zu behalten. Sie hatte offensichtlich in der vergangenen Woche einen Telefonanruf von der Polizei erhalten. Scheinbar war ihr Vater ohne Mantel oder Jacke aus der Tagesstätte weggelaufen und eine halbe Stunde später aufgefunden worden, als er versuchte, den Verkehr an der Kreuzung der Casey Street mit der Hillside zu dirigieren.
»Daraufhin habe ich entgegnet«, fuhr Esslyn fort, »und ich habe mich wirklich bemüht, bei dem Gedanken an diesen alten Irren, der da im Regen steht, eine ernste Miene zu bewahren, >Wie schrecklich. Und sie erwidert: >Ich weiß.<« Er legte eine Pause ein, um ihnen Gelegenheit zu geben, sein perfektes Timing zu genießen. »>Er kennt sich in diesem Teil der Stadt doch überhaupt nicht aus.<«
Ganz spontan fingen sie alle an zu grölen. Einschließlich Nicholas. Er lachte zwar nicht ganz so lange und so laut wie die anderen, aber er lachte. Einen Augenblick später erschien Dierdre in der Tür.
»Noch eine Viertelstunde.«
Augenblicklich wurde ein Chor aus übertriebenen und unaufrichtigen Dankbarkeitsbekundungen laut. Nur Esslyn, der sorgfältig seinen Lippenstift auftrug, schwieg. Es ist schwer zu sagen, dachte Nicholas, ob sie es gehört hat oder nicht. Auf ihrem ohnehin schon roten Gesicht wäre eine etwas heftigere Röte nicht aufgefallen, und da ihr Gesichtsausdruck immer ein wenig verängstigt war, konnte man auch daraus keinen Schluß ziehen. Schon in dem Moment, als Dierdre wieder verschwand, verkündeten die Everards, sie sei abgehauen, so als wäre sie gleich in einen Jagdgalopp gefallen. Zur Ehre der Garderobe muß gesagt werden, daß diesmal kein Gelächter ausbrach.
Jemand stand auf und folgte ihr. Auch Nicholas hätte sich beinahe erhoben. Er war sie alle so leid. Er hatte das Gefühl, er sollte es wiedergutmachen, und daher stellte er sich vor, wie er in den Kulissen auf Dierdre zuging. Aber was sollte er schon sagen? Ich war keiner von denen, die gelacht haben? Das war ebenso beschämend wie gelogen. Entschuldige, Dierdre, ich wollte dir nicht weh tun, und das mit deinem Vater tut mir wirklich leid? Das war noch schleimiger. Und was, wenn sie es überhaupt nicht gehört hatte? In diesem Fall hätte es ihr völlig unnötigerweise Schmerzen bereitet, wenn sie von ihm vollständig ins Bild gesetzt worden wäre. Dann fing er an, sich über sie zu ärgern, und ihm war gleich wieder viel wohler zumute. Also, ehrlich, dachte er, für jemanden, der ständig auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen ist, sollte sie einfach vorsichtiger mit ihrer Vertrauensseligkeit umgehen. So ein gemeiner Kerl wie Esslyn war doch nun wirklich der letzte, dem sie ihr Herz hätte ausschütten sollen. Was hatte sie denn anderes erwartet? Dieser erbärmliche Versuch, einen Teil der Schuld auf Dierdres ohnehin schon gebeugte Schultern zu packen, führte jedoch nur dazu, daß er sich noch mieser fühlte. Es wurde ihm klar, daß er wütend auf Esslyn war, weil dieser ihn in eine emotionale Zwickmühle gebracht hatte, zu einem Zeitpunkt, als seine Gedanken doch ausschließlich beim ersten Akt hätten sein sollen. Und ehe er sich bewußt war, was er tat, kamen die Worte auch schon über seine Lippen.
»Esslyn, weißt du, was dein Problem ist?« Esslyns Hände waren ruhig. Er blickte fragend in seinen Spiegel. »Du bist zu voll von der Milch der menschlichen Güte.«
Plötzlich schwiegen alle. Geweißte Gesichter wandten sich übertrieben von einem zum anderen. Boris stellte sein Umherlaufen ein und starrte bestürzt auf Nicholas’ Hinterkopf. Van Swieten bemerkte nur: »Du Dummkopf.« Nicholas sah sie alle kampfbereit an. Dieser Respekt vor Esslyn ging ihm zu weit. Er mochte ja seit fünfzehn Jahren der Hauptdarsteller der Truppe sein, aber das machte ihn doch noch lange nicht zu Gott dem Allmächtigen.
»Weißt du eigentlich, was du da gesagt hast?« fragte Boris.
»Ich habe lediglich ausgesprochen, was ich denke«, entgegnete Nicholas. »Das ist doch kein Beinbruch.«
»Du hast aus Macbeth zitiert.«
»Was?«
»Doch fürchte ich deine Natur: sie ist zu voll von der Milch der menschlichen Güte«, rezitierte Boris.
»Halt den Mund!« schrie Orsini-Rosenberg. »Du machst alles nur noch schlimmer.«
»Genau«, schaltete sich Clive Everard ein. »Nicholas hat das doch unwissentlich getan.«
»Es ist Boris, der uns allen ein Problem an den Hals schafft.«
»Ihr müßt beide nach draußen gehen, euch dreimal umdrehen und wieder zurückkommen«, forderte van Strack.
»Ich werde nichts dergleichen tun«, erklärte Nicholas, aber er zögerte. Schließlich war er dabei, diesen Beruf zu ergreifen, und daher war es wohl geraten, auch alle seine Mythen und Rituale freudig anzunehmen. Was heißt hier, wohl geraten -er lechzte regelrecht danach. »Ich habe das jedenfalls nicht mit Absicht gesagt.«
»Komm schon.« Boris stand bereits in der Tür. Nicholas erhob sich halb von seinem Stuhl. »Ist das die einzige Möglichkeit, eine Katastrophe abzuwenden?«
»Genauso ist es, Nicholas. Es gibt schreckliche Geschichten darüber, was passieren kann, wenn du Macbeth zitierst und es nicht richtigstellst.«
»Oh... wenn du das sagst.« Nicholas ging zu Boris. »In welche Richtung müssen wir uns drehen? Im Uhrzeigersinn oder entgegengesetzt?«