Sie sah auf ihre Uhr. Wo zum Teufel konnte er bloß stecken? Sie hatte doch für Viertel vor acht ein Taxi bestellt, und die Fahrt dauerte bloß ein paar Minuten. Dann sah sie ein Taxi vor dem Eingang halten und eilte in die kalte Abendluft hinaus. Mr. Tibbs Gesicht hellte sich auf.
»Hallo, Daddy«, rief sie erleichtert. »Ich hatte solche Angst...« Sie unterbrach sich und holte tief Luft. Ihr Vater war mit einem kurzärmeligen Sommerhemd und einer beigefarbenen Baumwollhose bekleidet, und ein Leinenjackett hing über seinem Arm. Als sie ihn zu Hause zurückgelassen hatte, trug er noch einen dicken Tweedanzug mit einem warmen Schal und hatte fünf Pfund in der Tasche. Wenigstens hat er sich daran erinnert, das Geld mitzunehmen, dachte Dierdre, denn sie bemerkte, wie er die Banknote herauszog. Als der Fahrer das Fenster hochkurbelte, pochte Dierdre dagegen und sagte: »Haben Sie denn kein Wechselgeld?«
»Tun Sie mir einen Gefallen«, bat der Mann, »ich durfte zehn Minuten rumsitzen, bis der Mensch seine Klamotten gewechselt hatte.«
Dierdre nahm den Arm ihres Vaters, der eiskalt und ein wenig feucht war, und führte ihn durch das inzwischen fast menschenleere Foyer zu seinem Sitz in Reihe P.
Glücklicherweise war es im Zuschauerraum warm, und sie konnte sich darauf verlassen, daß er in der Pause etwas zu trinken bekommen würde. Sie verließ ihn, und er saß sehr aufrecht da und starrte mit fieberhafter Intensität auf die dunkelroten Vorhänge.
Im Foyer nickte Barnaby Ernest zu, lief "hinter seiner Tochter her zu den Kulissen und zwängte sich an Harold vorbei, der gerade huldvoll einem schwergewichtigen Pärchen in voller Abendgarderobe behilflich war.
Die Damengarderobe wurde nur von vier Personen benutzt, und da die Schauspielerin, die Katharina Cavalieri spielte, auch zum Bühnenpersonal gehörte, hielten sich jetzt nur drei Menschen dort auf. Joyce Barnaby in einem puritanisch grauen Kleid und schneeweißem Fichu puderte sich gerade die Nase. Kitty hampelte und zappelte derweil auf ihrem Stuhl herum, klapperte mit ihren Fläschchen und Flakons und murmelte ihren Eingangstext mit solch einer Demut, als würde sie den Rosenkranz beten. Rosa saß dagegen einigermaßen gelassen auf einem Sessel dicht neben dem elektrischen Heizgerät. Ihre Kleidung und ihre Schminke ignorierten völlig die Erfordernisse ihrer Rolle. Ihr Gesicht wirkte keineswegs schlicht und streng, sondern so prächtig wie eine Orchidee, und hätte durchaus das einer poule de luxe zur Jahrhundertwende sein können. Die Augenlider schimmerten wie das Innere einer Muschel, und ihre vollen Lippen leuchteten. Sie trug einen breiten Hut, von dem Kirschen hingen, die auf ihre rosige Wange herabfielen. Perfekt gesprenkelte rote Ovale, die Eier eines Phantasievogels hätten sein können. Außerdem gab es zwei wunderbare Blumensträuße von Harold für seine Hauptdarstellerinnen. Und Joyce (kleine Rollen/Garderobe) hatte von ihrem Mann ein Bund Immergrün und Nieswurz bekommen, das mit einem Samtband zusammengehalten wurde.
Die Tür öffnete sich. Cully steckte kurz den Kopf herein, wünschte: »Hals-und Beinbruch«, und verschwand dann wieder. Barnaby erschien als nächster. »Viel Glück euch allen.« Joyce schlüpfte in den Gang hinaus und umarmte ihn. Er küßte sie auf die Wange. »Viel Glück, Wiener Bürgerin, Bäckerin und Geräuschkulisse.«
»Ich habe ganz vergessen, wo ihr sitzt.«
»In Reihe C in der Mitte.«
»Dann weiß ich ja, wohin ich auf keinen Fall schauen darf. Benimmt sich Cully?«
»Es geht.«
Barnaby fand die Herrengarderobe in heller Aufregung. Nur Esslyn, der die Erinnerung an die vergangenen Premieren wie einen unsichtbaren Orden trug, blieb ruhig. Andere Darsteller lachten unsicher, schlichen umher, rangen die Hände oder (im Falle Orsini-Rosenberg) taten alles auf einmal. Colin rief: »Die Ersten: Akt Eins« und drückte den Summer. Kaiser Joseph schrie: »Die Glocken! Die Glocken!« und brach in schrilles, manisches Gelächter aus. Barnaby murmelte »Alles Gute« und stieß mit Harold zusammen, der dann in die Mitte des Raumes sprang und einen Fanfarenstoß unbegründeten Vertrauens von sich gab.
»Nun, meine Lieblinge, ich weiß, ihr werdet alle hervorragend sein...«
Barnaby machte sich auf und davon. Er ging an den Kulissen vorbei und bemerkte Dierdre, die bereits in der Souffleurecke bereitstand. In dem Licht der Klemmlampe wirkte sie seiner Meinung nach beunruhigt und aufgewühlt. Colin stand neben ihr. Barnaby zeigte ihnen seinen erhobenen Daumen. Dann entdeckte er Nicholas, der hinter dem Bogengang, durch den er seinen ersten Auftritt machen würde, wartete. Das Gesicht des Jungen sah in dem dämmerigen Arbeitslicht fahl aus und war mit durchsichtigen Schweißperlen bedeckt. Er beugte sich vor, nahm ein Glas Wasser vom Boden und trank. Anschließend umklammerte er die Streben des Bogenganges mit zittrigen Händen. Besser du als ich, Kumpel, dachte der Chefinspektor. Er war gerade auf dem Weg zu Reihe C und setzte sich neben seine Tochter, als Harold ankam, die Flügeltür neben der ersten Reihe unnötig schwungvoll auffliegen ließ und sein Gesicht dem Publikum zuwandte, als erwartete er allein aufgrund der Tatsache seiner Existenz Applaus. Dann nahm er in der Mitte der Reihe Platz, und das Stück begann.
Vom allerersten Moment an ging alles schief, und alle machten hinterher die Beleuchtung dafür verantwortlich. Tim und Avery, die jetzt schwitzend in ihrer Kammer saßen, waren derart in ihr Projekt vertieft und verzückt darüber, endlich ihren eigenen Weg zu gehen, daß sie keinen Augenblick an die Wirkung gedacht hatten, die ein ganz neues Lichtspektrum auf die Besetzung haben würde. Die Darsteller wurden langsam und gerieten durcheinander, was man ihnen keineswegs vorwerfen konnte. Sogar Nicholas, der immerhin auf die Veränderung vorbereitet war, geriet aus dem Konzept und fing sich nur mit Mühe wieder. Und seine erste Szene, die voller übler Schimpfwörter war, brachte ihn fast zum Stillstand.
Zunächst nahmen die Bürger Caustons, die wild entschlossen waren, unter Beweis zu stellen, daß man hier genauso avantgardistisch war wie andere Leute auch, diese Schmähreden gelassen hin, aber als Mozart sagte, er wolle den Arsch seiner Frau lecken, stand ein ehrbarer Bürger auf, beschwerte sich laut über diesen »Toilettenhumor« und stampfte nach draußen, mit seiner braven Frau dicht auf den Fersen. Nicholas zögerte, weil er sich fragte, ob er warten sollte, bis sie gegangen waren, oder ob er einfach weitermachen sollte. Seiner Unentschlossenheit half es wenig, daß er Harold klar und deutlich »Bauern« hinter dem Paar herrufen hörte. Als Nicholas jedenfalls wieder in seine Rede zurückstolperte, war jegliches Rabelaische Schwelgen aus seiner Stimme verschwunden. Er fühlte sich gräßlich gehemmt und völlig unsicher, so als hätte er überhaupt nicht das Recht, auf der Bühne zu stehen. Er war sich auch im klaren darüber, daß sich Kitty ohne jede Hilfe an seiner Seite verhaspeln würde und damit Esslyns bissige Vorhersagen einträfen. Nach seinem ersten Abgang stand er hinter den Kulissen, und ihm war schlecht vor Enttäuschung. Er lauschte Salieri, der sich zwar keinen Fehler erlaubte, aber doch etwas hölzern anhörte.
Zum ersten Mal fragte sich Nicholas, was zum Teufel eigentlich in einen erwachsenen Mann gefahren sein mußte, der in nervösen Schweiß getränkt, in lächerlicher Kleidung, das Gesicht mit Schminke verklebt und mit einer blöden Perücke auf dem Kopf darauf wartete, durch eine Leinwandtür in eine Welt zu gehen, die nur eine hauchdünne Verbindung zur Realität hatte. (Hätte er doch nur geahnt, daß solche Gedanken ihn in Zukunft noch Tausende von Malen heimsuchen würden, in genau dieser Form. Und häufig in der erlauchtesten Gesellschaft.)