Robin ließ sich fallen, warf sich zurück und fast im gleichen Moment wieder nach vorne, und der doppelte Ruck wirkte. Der Schmerz in ihrer Schulter ließ sie gellend aufschreien, aber sie kam frei, stolperte einen Schritt nach vorn und halb blind vor Schmerz herum. Noch immer drehte sich alles um sie. Die Männer versuchten abermals nach ihr zu greifen. Robin wich einer zupackenden Hand aus, tauchte unter einem gemeinen Fausthieb weg und schlug blindlings zurück. Sie hatte nicht mehr die Kraft, wirklich hart zuzuschlagen, aber der Mann stieß trotzdem keuchend die Luft zwischen den Zähnen aus und stolperte aus dem Weg. Robin taumelte weiter. Hände griffen nach ihr. Stoff zerriss, und Fingernägel fuhren heiß und brennend über ihre Wange und ihren Hals. Jemand schrie ihren Namen.
Irgendwie gelang es ihr, sich noch einmal loszureißen und davonzutaumeln. Schatten führten einen irrsinnigen Tanz rings um sie herum auf, versuchten sie zu packen. Robin schlug zu, traf und wurde getroffen und fiel auf ein Knie herab. Eine Hand grub sich so schmerzhaft in ihre verwundete Schulter, dass ihr abermals übel wurde. Der Ausschnitt der Welt vor ihren Augen begann kleiner zu werden. Sie sah plötzlich keine Farben mehr. Dunkelheit begann aus allen Richtungen auf sie zuzukriechen.
»Robin! Hierher!«
War das Nemeth? Robin hob mühsam den Kopf und sah einen sonderbar verschwommenen hellen Schemen, der ihr zuzuwinken schien. Nicht weit entfernt, nur ein paar Schritte. Es musste Nemeth sein. Niemand sonst hier kannte ihren Namen. Sie stand vor der Mauer auf der rechten Seite, aber irgendwie zugleich auch darin, und winkte ihr hektisch zu.
Der Anblick gab Robin noch einmal neue Kraft. Sie taumelte auf die Füße, riss sich los und rannte auf den Schatten zu. Hinter ihr waren schwere, trappelnde Schritte, die rasend schnell näher kamen. Sie konnte es nicht schaffen.
Aber irgendwie brachte sie das Unmögliche fertig. Plötzlich lag die Tür vor ihr. Robin duckte sich unter dem kaum fünf Fuß hohen Sturz hindurch und spürte, wie sich starke Finger in ihr Kleid krallten, aber dann war da plötzlich noch eine andere, viel stärkere Hand, die ihren Arm ergriff und sie mit solcher Kraft nach vorne riss, dass sie hilflos stolperte und nach zwei oder drei Schritten gegen die raue Wand prallte, die den Gang auf der anderen Seite begrenzte. Hinter ihr wurde ein Chor ebenso wütender wie enttäuschter Stimmen laut, dann hörte sie ein dumpfes Krachen, und es wurde dunkel. Noch während sie hilflos an der Wand herab in die Knie brach, ertönte ein schweres Scharren und Poltern; vielleicht ein Riegel, der vorgelegt wurde.
»Herrin? Ist alles in Ordnung?«
Hände machten sich in der Dunkelheit an ihr zu schaffen, tasteten über ihr Gesicht und ihren Hals und zogen sich erschrocken zurück, als sie die frischen blutigen Kratzer spürten. Robin drehte sich mühsam um. Sie fühlte rauen Stein unter den Fingern, und ein sonderbar muffiger Geruch hing in der Luft. Es war vollkommen dunkel.
Das Klicken eines Feuersteins erscholl irgendwo links von ihr, einmal, zweimal, dreimal, dann stach ein weißer Funke durch die Schwärze, der sich im nächsten Augenblick zur ruhig brennenden Flamme einer Fackel auswuchs. Ein schmales, fast jungenhaft wirkendes Gesicht erschien in der Dunkelheit über ihr.
»Rother?«
»Soll ich mich geschmeichelt fühlen, dass du dich überhaupt noch an mich erinnerst?«, fragte der junge Tempelritter. Seine Stimme troff vor Verachtung. Langsam trat er auf sie zu. Seine Augen glitzerten kalt. »Schreckst du denn vor gar nichts zurück? Jetzt verkleidest du dich schon als Weib, um unerkannt deinen widernatürlichen Gelüsten nachzugehen? Ich hätte dich töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte!«
Robin ließ sich mühsam an der Wand herabgleiten und biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Ihre Schulter schien in Flammen zu stehen, und sie hatte das Gefühl, als wäre tief in ihrem Körper irgendetwas zerbrochen.
»Warum ... tust du es dann ... nicht?«, presste sie hervor. »Die Gelegenheit ist günstig.«
Rothers Augen flammten auf. Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu und riss das Schwert aus dem Gürtel. Die Klinge zitterte, als er die Spitze auf ihre Kehle richtete. »Führe mich nicht in Versuchung«, zischte er.
»Wirst du wohl sofort mit diesem Unsinn aufhören, du Dummkopf!«, fuhr Nemeth ihn an. Sie schlug sein Schwert beiseite, funkelte ihn einen Moment lang herausfordernd an und ließ sich dann neben Robin auf die Knie sinken. Der Ausdruck von Zorn auf ihrem Gesicht machte Bestürzung und Sorge Platz.
»Bewegt Euch nicht, Herrin«, sagte sie. »Ich helfe Euch.«
Robin hätte sich nicht einmal bewegen können, wenn sie es gewollt hätte. Ihre Schulter schmerzte unerträglich. Ein leises Wimmern kam über ihre Lippen, als Nemeth mit spitzen Fingern ihr Kleid zurückzuschlagen begann und sich vorsichtig an dem Verband zu schaffen machte. Der Stoff war dunkel und schwer von Blut.
Rother trat näher und senkte seine Fackel. Seine Augen wurden groß. »Aber ...«
»Halt den Mund, du Dummkopf!«, unterbrach ihn Nemeth gereizt. »Leuchte mir lieber!«
Rother war so perplex, dass er schon ganz automatisch gehorchte. Nemeth rutschte ein Stück zur Seite, um sich nicht selbst im Licht zu sitzen, und wickelte behutsam weiter den Verband ab. Robin stöhnte, als sie sah, dass die fast verheilte Wunde darunter wieder aufgebrochen war und heftig blutete.
Rother ächzte. Die Fackel in seiner Hand begann zu zittern, und seine Augen quollen ein Stück weit aus den Höhlen.
Aber er starrte nicht die Wunde an.
»Aber das ist doch ...«, stammelte er. »Ich meine ... aber ich dachte, du ... du ...«
»Du bist wirklich ein richtiger Mann, wie?«, unterbrach ihn Nemeth spöttisch. »Wenn du einen Satz mit den Worten ich dachte beginnst, dann folgt garantiert eine Katastrophe.«
Rother schien ihre Worte gar nicht zu hören. Er starrte Robins Brüste an, die unter dem Kleid zum Vorschein gekommen waren. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren.
Robin hob instinktiv die Hand, um ihre Blöße zu bedecken, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern ließ den Arm kraftlos wieder sinken. Es spielte keine Rolle mehr. Alles war aus.
»Aber du ...«, stammelte Rother. »Ich meine, als ... als ich dich mit dem Sarazenen gesehen habe, da dachte ich ... ich meine ...«
»Ja, ich weiß, was du dachtest«, sagte Robin müde.
»Du ... du bist ... eine Frau?«, ächzte Rother.
»Ein scharfsinniges Bürschchen, Euer Freund«, höhnte Nemeth. »Seid ihr Tempelritter alle so klug? Euch entgeht aber auch wirklich nichts.«
Rother nahm sie auch weiterhin gar nicht zur Kenntnis. »Aber wie kann das sein?«, murmelte er. »Ich meine, wie ...?«
»Jetzt hör endlich auf zu reden!«, schnappte Nemeth. »Die Wunde sieht schlimm aus. Wir müssen sie verbinden, oder sie verblutet!«
Sie überlegte einen Moment angestrengt, dann griff sie kurzerhand nach Robins Kopftuch und versuchte es in Streifen zu reißen. Ihre Kraft reichte nicht, und Rother steckte rasch sein Schwert ein und zog stattdessen einen schmalen Dolch, den er dem Mädchen reichte. Nemeth nahm ihn wortlos entgegen und zerschnitt das Kopftuch in ein halbes Dutzend handbreiter Streifen, mit denen sie - alles andere als sanft, aber sehr schnell - einen Verband über der Wunde improvisierte. Es tat weh, aber Robin glaubte zumindest zu spüren, dass die Blutung tatsächlich nachließ. Sie glaubte nicht, dass sie wirklich in Gefahr war, zu verbluten. Nemeth übertrieb, wie sie es gerne tat.
Und selbst wenn nicht, war es vermutlich auch egal.
Endlich hörte Nemeth auf, an ihrer Schulter herumzuzerren und -zudrücken, und Robin ließ mit einem erleichterten Seufzen den Hinterkopf gegen den rauen Stein sinken und schloss die Augen. Die Schmerzen verebbten allmählich, aber nun machte sich eine bleierne Schwere in ihr breit. Keine drohende Ohnmacht, begriff sie. Sie war schlicht und einfach dabei einzuschlafen.