Robin riss mit einem Ruck die Augen auf.
Auch Rother hatte sich mittlerweile auf die Knie niedergelassen. Er starrte jetzt nicht mehr ihre Brüste an, sondern ihr Gesicht. Er war kreidebleich.
»Du ... du bist eine Frau«, murmelte er.
»Wie Nemeth schon sagte«, antwortete Robin mit einem dünnen, gequälten Lächeln. »Du bist ein scharfer Beobachter. Dir entgeht wirklich nichts. Wo kommst du überhaupt so plötzlich her? Erzähl mir nicht, du wärst ganz zufällig des Weges gekommen.«
Rother schwieg, und Robin ließ ihren Blick über sein Templergewand schweifen und dachte an den Schemen in Weiß und Rot, den sie vorhin auf dem Basar gesehen hatte. »Du hast uns verfolgt.«
»Ich ... wusste, dass man dich in dem Assassinenhaus untergebracht hatte«, antwortete Rother zögernd. »Als ich das Mädchen und dich herauskommen sah, war ich zuerst nicht sicher. Aber dann dachte ich, du hättest dich als Frau verkleidet, und bin euch gefolgt.«
»Wer hat dir gesagt, dass ich in diesem Haus bin?«, fragte Robin.
Rother schwieg. Er wich ihrem Blick aus.
»Jemand hat dich beauftragt, mir nachzuspionieren«, beharrte Robin. »Wer war es? Bruder Dariusz? Du kannst es mir ruhig sagen. Es ist ohnehin alles vorbei. Ihr habt gewonnen.«
»Nein«, antwortete Rother, leise und noch immer, ohne sie direkt anzusehen. »Nicht Dariusz.«
»Also Abbé.« Robin seufzte. Der Gedanke hätte sie beruhigen sollen, aber er tat es nicht. Sie fühlte sich verraten.
Rother antwortete auch darauf nicht. Er starrte weiter an ihr vorbei ins Leere und stand dann mit einem plötzlichen Ruck auf. Seine Fackel flackerte.
»Wir müssen weg hier. Die Männer werden Alarm schlagen, und jemand wird kommen und nach dir suchen. Eine Frau im Tempelberg, das ist unmöglich. Kannst du laufen?«
Robin versuchte es. Sie kam tatsächlich auf die Füße, aber als sie einen Schritt machen wollte, gaben ihre Knie unter dem Gewicht ihres Körpers nach, und Rother konnte gerade noch rechtzeitig hinzuspringen, um sie aufzufangen. Wortlos ergriff er ihren Arm und legte ihn sich um die Schulter. Nemeth nahm die Fackel und ging voraus.
»Warum tust du das?«, fragte Robin. »Wenn sie dich zusammen mit mir erwischen, dann ist es auch um dich geschehen. Lass mich einfach hier und bring dich in Sicherheit.«
»Es ist nicht meine Aufgabe, dich hier zurückzulassen und mich in Sicherheit zu bringen«, antwortete Rother. »Und nun schweig still. Ich muss mich konzentrieren.«
»Worauf?«, wollte Robin wissen.
»Auf die Frage, wie wir lebend hier herauskommen«, antwortete er.
21. KAPITEL
Eine halbe Stunde später war auch Robin nicht mehr sicher, ob sie das Tageslicht jemals wiedersehen würden. Sie war auch nicht sicher, ob es wirklich eine halbe Stunde gewesen war oder vielleicht auch zwei oder ein ganzer Tag. Zeit war auf eine sonderbare Weise bedeutungslos geworden. Im flackernden roten Licht der Fackel, die Nemeth vor ihnen hertrug, wirkten die unheimlichen Gänge und Stollen, durch die sie sich bewegten, nicht nur immer fremdartiger und bizarrer, sondern auch irgendwie alle gleich. War ihr der Große Tempel bedrohlich und einschüchternd vorgekommen, so ging von diesem lichtlosen uralten Labyrinth etwas kaum in Worte zu fassendes, Atem abschnürendes aus. Sie musste daran denken, was Nemeth über den Tempelberg gesagt hatte. Wenn sie die Wahrheit gesagt hatte, dann stammten diese Stollen und Treppen noch aus den Zeiten König Salomons und waren älter, als sie sich auch nur vorstellen konnte. Und sie glaubte das unglaubliche Alter dieser Mauern beinahe körperlich zu spüren, als hätte jedes Jahr, das seit dem Tag ihrer Fertigstellung verstrichen war, irgendetwas zurückgelassen, das nun unsichtbar, aber wie ein körperlich spürbares Gewicht in der Luft hing.
Vielleicht fantasierte sie auch einfach nur.
Robins Schulter hatte nach einer Weile aufgehört zu bluten, und auch die Schmerzen waren wieder auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, sodass sie endlich den Arm von Rothers Schulter nehmen und aus eigener Kraft gehen konnte. Doch auch das Fieber war zurückgekommen. Der schlechte Geschmack in ihrem Mund war wieder da, schlimmer denn je. Sie zitterte am ganzen Leib, und obwohl ihr kalt war, fühlte sich ihre Stirn glühend heiß an. Wenn es die Wahrheit war, dachte sie, dass Gott kleine Sünden sofort bestrafte, dann konnte ihr Vergehen, sich Salims Anweisungen widersetzt zu haben, wohl nicht allzu schwer wiegen ...
Sie hatten eine weitere Abzweigung erreicht (die wievielte?, dachte sie. Die fünfzigste? Oder war es mittlerweile schon die fünfhundertste? Sie wusste es nicht. Sie wäre nicht einmal erstaunt gewesen herauszufinden, dass sie sich im Kreis bewegten und schon einmal hier gewesen waren. Ihrer Meinung nach hatte Rother längst die Orientierung verloren - falls er sie jemals gehabt hatte), und Nemeth wollte sich nach rechts wenden, aber Rother bedeutete ihr mit einer raschen Geste, stehen zu bleiben. Nemeth gehorchte, aber sie sah ziemlich unglücklich dabei aus, fand Robin, und auch die Blicke, mit denen Rother abwechselnd nach rechts und links sah, wirkten alles andere als zuversichtlich.
»Dort entlang«, sagte er schließlich und deutete nach links. Es wirkte unentschlossen, und eigentlich hörte es sich auch eher an wie eine Frage.
Nemeth schien das wohl ebenso zu sehen wie sie, denn sie rührte sich nicht, sondern betrachtete zuerst Rother und dann einen deutlich längeren Moment ihre Fackel. Sie war schon mehr als zur Hälfte heruntergebrannt.
»Warum gibst du nicht einfach zu, dass wir uns verirrt haben?«, fragte sie dann.
»Ich habe mich nicht verirrt«, protestierte Rother. Nach einem Moment und in leicht verlegenem Ton fügte er hinzu: »Na ja, wenigstens nicht richtig.«
»Und wie verirrt man sich richtig, deiner Meinung nach?«, fragte Nemeth spöttisch.
»Das Problem ist nicht, dass ich den Weg nach draußen nicht kenne«, behauptete Rother. »Das Problem seid ihr.«
»Wieso?« Nemeths Augen wurden schmal.
»Weil ihr Frauen seid.« Rothers Blick streifte kurz und irritiert Robins Gesicht. Dann machte er eine fast trotzig wirkende Kopfbewegung hinter sich. »Dieser Gang führt ganz offensichtlich parallel zu den Pferdeställen.«
»Die Pferdeställe«, wiederholte Robin. »Und?« Dann riss sie ungläubig die Augen auf. »Moment mal«, keuchte sie. »Willst du etwa sagen, König Salomons Pferdeställe? Sie ... sie existieren wirklich?«
Rother nickte ungerührt. »Als ich das letzte Mal hier war, gab es sie jedenfalls noch ... gestern«, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu.
»Und du weißt, wo diese Pferdeställe sind?«, erkundigte sich Nemeth.
»Wir sind schon an drei Abzweigungen vorbeigekommen, die zu ihnen führen«, antwortete Rother.
»Und von da aus kommen wir nach draußen?«, hakte Nemeth nach.
»Nein«, sagte Robin, bevor Rother antworten konnte. »Er. Nicht wir.«
»Was?«, fragte Nemeth verwirrt.
»Weil er ein Mann ist«, sagte Robin. Sie machte eine Geste auf Rothers Ordenstracht. »Und ein Tempelritter. Niemand, der nicht Mitglied des Ordens ist, hat Zutritt zum Inneren des Tempelberges. Und eine Frau schon gar nicht.«
»Dann müssen wir eben aufpassen, dass uns niemand sieht«, sagte Nemeth. »Ich bin richtig gut darin, mich anzuschleichen. Und Robin ist noch viel besser. Sie kann sich in einen Schatten verwandeln, wenn sie will.«
»Das glaube ich gern«, antwortete Rother, während er Robin mit einem weiteren, irritierten Blick streifte. »Trotzdem ist es unmöglich. In den Ställen ist immer jemand. Stallburschen, Knappen, Pferdeknechte ...« Er zuckte die Achseln. »Sie würden euch sehen, bevor ihr dem Ausgang auch nur nahe kommt. Auf der anderen Seite ...«