»Ja?«, fragte Robin, als er nicht weitersprach, sondern nur angestrengt die Stirn runzelte und einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere starrte.
»Es wäre möglich«, murmelte er. »Riskant, aber möglich.«
»Dann sollten wir es versuchen«, sagte Robin. Was immer er auch meinte.
Rother sah sie noch einen Moment lang nachdenklich an, dann drehte er sich um und gab Nemeth ein Zeichen, wieder mit ihrer Fackel vorauszugehen.
Sie bewegten sich tatsächlich nur knappe zwei oder drei Dutzend Schritte den Weg zurück, den sie gekommen waren, dann erreichten sie eine Abzweigung und wandten sich nach links, und diesmal hatte Robin das beruhigende Gefühl, dass er wusste, was er tat.
Sie waren einige weitere Dutzend Schritte gegangen, als Nemeths Fackel stärker zu flackern begann. Alarmiert hielt sie an, und Rother machte eine wedelnde Handbewegung.
»Mach die Fackel aus«, befahl er.
»Aber dann sehen wir nichts mehr«, protestierte Nemeth.
»Wer werden uns im Dunkeln ...«
»Tu einfach, was er sagt«, unterbrach sie Robin.
Nemeth funkelte sie einen Moment lang trotzig an, aber dann legte sie die Fackel auf den Boden und trat sie aus. Im allerersten Moment erschien Robin die Dunkelheit, die über ihnen zusammenschlug, so absolut, dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr richtig atmen zu können. Aber dann spürte sie einen sachten Luftzug auf dem Gesicht, und ihre Augen begannen einen mattgrauen Lichtschimmer am Ende des Stollens wahrzunehmen.
»Keinen Laut mehr jetzt«, flüsterte Rother. »Und bleibt immer dicht hinter mir.«
Er übernahm die Führung, und Robin und Nemeth schlossen sich ihm schweigend an. Zuerst war er nicht einmal ein Schatten vor ihnen, den sie eigentlich nur sah, weil er den Lichtschimmer verdeckte. Doch das Grau wurde rasch heller. Nach wenigen Augenblicken hatten sie das Ende des Ganges erreicht, und als Rother stehen blieb und sie heranwinkte, bot sich ihr ein absolut fantastischer Anblick.
Der Gang endete in einer steilen, direkt aus dem Fels herausgemeißelten Treppe, die gute fünfzehn oder zwanzig Stufen weit in eine gewaltige, von grauem Zwielicht erfüllte Halle hinabführte. Robin versuchte erst gar nicht, ihre Größe zu schätzen - es musste der größte frei tragende Raum sein, den sie jemals gesehen hatte -, doch sie war gewaltig. Zahlreiche hüfthohe Mauern unterteilten sie in ein Labyrinth aus rechteckigen Abteilen. Der allergrößte Teil davon war leer. In einigen wenigen glaubte sie Stroh oder Heu auf dem Boden zu erkennen, und in noch weniger hielten sich tatsächlich Pferde auf. Der Anblick hatte etwas gleichermaßen Erhabenes wie Ernüchterndes, wobei sie weder das eine noch das andere Gefühl wirklich in Worte fassen konnte.
»Das sind ... König Salomons Pferdeställe?«, fragte sie schließlich.
Rother bedeutete ihr grimassenschneidend, leiser zu sprechen, antwortete aber trotzdem. »Jedenfalls hat man mir das gesagt«, wisperte er. »Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht. Aber das wollte ich dir auch nicht zeigen.«
Er hob den Arm und deutete zur Decke empor. Robins Blick folgte seiner Geste. Sie sah fast sofort, was er meinte.
Das graue Zwielicht, das den Raum erhellte, kam nicht von Fackeln oder irgendeiner anderen künstlichen Beleuchtung, sondern aus Dutzenden runder, vielleicht einen Fuß messender Löcher, die in fast regelmäßigen Abständen in der Höhlendecke gähnten und nicht nur für Licht, sondern vor allem für die Zufuhr frischer Luft unten sorgten.
»Wir sind fast genau unter dem Templum Domini«, fuhr Rother fort. »Diese Luftschächte münden direkt hinter ihm auf einen kleinen Hof, von wo aus man zur Straße gelangen kann, ohne gesehen zu werden.«
»Du willst ... dort hinaufklettern?«, fragte Nemeth zweifelnd.
»Es ist nicht so schwierig, wie es aussieht«, behauptete Rother.
»Die meisten Schächte sind viel zu eng, aber es gibt ein paar, durch die man durchaus nach oben klettern kann.«
»Und ich habe mich schon gefragt, wie es kommt, dass ein so junger und unbekannter Ordensbruder um dieses Geheimnis weiß«, sagte Robin spöttisch.
Rothers Blick sagte ihr, dass sie mit ihrer unausgesprochenen Vermutung der Wahrheit wohl näher gekommen war, als er zugeben wollte. »Die Decke ist vielleicht zehn Fuß dick«, fuhr er fort. »An manchen Stellen sogar weniger. Wenn man keine Angst vorm Klettern hat, kann man es schaffen.« Sein Blick tastete kritisch über Nemeths Gesicht. »Glaubst du, dass du es schaffst?«
»Wenn du mir verrätst, wie wir da hochkommen sollen«, erwiderte Nemeth stirnrunzelnd. »Fliegen kann ich nämlich noch nicht.«
»Ich kenne eine Stelle, an der man leicht an der Wand nach oben klettern kann«, antwortete Rother. Sein Blick wurde besorgt, als er sich wieder zu Robin umwandte, und seine Augen stellten eine lautlose Frage, die sie mit einem ebenso stummen Kopfschütteln beantwortete. Sie musste nicht einmal in sich hineinlauschen, um zu wissen, dass sie auf gar keinen Fall in der Lage war, die Kletterpartie zu bewältigen, die Rother vorgeschlagen hatte.
Er schien allerdings mit genau dieser Antwort gerechnet zu haben, denn er zuckte nur fast resignierend mit den Schultern und begann seinen Schwertgurt abzuschnallen. Rasch entledigte er sich des Wappenrocks, seines Kettenhemds und auch der Stiefel. Nemeth sah ihn nur mit wachsender Verblüffung an, aber Robin wusste natürlich, was Rother von ihr erwartete. Sie fragte sich, warum sie nicht von selbst darauf gekommen war.
»Zieh das an«, sagte Rother. »Aber du solltest warten, bis das Mädchen und ich weg sind. Ich bringe Nemeth nach Hause, dann komm ich mit Hilfe zurück.«
»Ich lasse Robin nicht im Stich!«, protestierte Nemeth.
»Rother hat Recht«, beruhigte Robin sie. »Mach dir keine Sorgen. Mir kann gar nichts passieren. Wie sind hier im Hauptquartier des Ordens. In diesen Kleidern werde ich praktisch unsichtbar. Sobald ihr in Sicherheit seid, kann ich einfach hier hinausspazieren, und niemand wird eine Frage stellen.«
Ganz so einfach würde es nicht werden, das musste auch Rother klar sein, aber er fing wohl im letzten Moment Robins beschwörenden Blick auf, denn er sagte nichts Entsprechendes, sondern stimmte ihr im Gegenteil zu. »Vielleicht solltest du dich einfach eine Weile verstecken. Am Nachmittag wird mit der Ankunft einer Gruppe Reiter aus Safet gerechnet. Sicherlich zwanzig Mann, wenn nicht mehr. Sie werden ihre Pferde herunterbringen. Wenn sie den Stall verlassen, kannst du dich unauffällig unter sie mischen. Niemandem wird es auffallen.«
»Am Nachmittag?« Das war eine lange Zeit.
Rother machte eine beruhigende Geste. »Nur für alle Fälle. Keine Sorge. Bis dahin bin ich längst zurück, und du wirst sicher hier herausgebracht.«
»Warum tust du das, Rother?«, fragte Robin.
»Weil es mein Befehl ist, auf dich acht zu geben«, antwortete Rother, doch Robin schüttelte heftig den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Das ist vielleicht dein Befehl, aber nicht der Grunde, aus dem du es tust. Niemand, nicht einmal Bruder Dariusz oder Bruder Abbé und vermutlich nicht einmal der König selbst könnten dich dazu zwingen, etwas zu tun, was du nicht wirklich willst.« Sie machte eine Kopfbewegung auf seine Kleider, die neben ihr lagen. »Das da hätte dir ganz einfach nur nicht einzufallen brauchen, und ich wäre praktisch schon so gut wie tot. Aber es ist dir eingefallen.«
»Und was genau willst du damit sagen?« Rother sah sie mit schräg gehaltenem Kopf an. Er wirkte angespannt.
»Fragen, Rother, nicht sagen«, korrigierte ihn Robin. »Du riskierst dein Leben für mich. Dabei habe ich in deinen Augen alles verraten, woran du glaubst und wofür unser Orden steht. Warum?«
»Vielleicht, weil ich mich dasselbe frage«, antwortete Rother ernst. »Warum? Es muss einen Grund geben. Einen wichtigen Grund, denn du hast mächtige Freunde, wie es aussieht. Vielleicht bin ich einfach nur neugierig und will wissen, was dahinter steckt.«