Robin warf einen raschen, beruhigenden Blick in die Runde und wechselte das Schwert von der linken wieder in die rechte Hand, die zwar immer noch kribbelte und wehtat, die sie jetzt aber wieder einigermaßen benutzen konnte. Gleichzeitig machte sie mit dem frei gewordenen Arm eine entsprechende Geste zu den Dörflern.
Langsam, aber mit festen Schritten ging sie dem Anführer des Reitertrupps entgegen, der sein Tier nun endlich zügelte und sich ihr auf dem letzten Stück in gemäßigtem Tempo näherte, statt in wildem Galopp heranzupreschen. Zwei Schritte vor ihr brachte er sein Tier endgültig zum Stehen, und auch Robin hielt an, legte den Kopf in den Nacken und beschattete die Augen mit der freien Hand. Der Reiter hatte genau so angehalten, dass er die Sonne im Rücken hatte und sie ihn eigentlich nur als großen, sonderbar verzerrten und bedrohlich wirkenden Umriss erkennen konnte, was zweifellos kein Zufall war. Dennoch konnte sie sehen, dass er eine geraume Weile vollkommen reglos im Sattel sitzen blieb und mit schräg gehaltenem Kopf auf sie herabblickte.
»Du hast dich tapfer geschlagen«, sagte er schließlich. Seine Stimme drang nur verzerrt und dumpf unter dem schweren Topfhelm hervor, der sein Gesicht auch dann vor ihren Blicken verborgen hätte, wäre nicht der grelle Feuerball der Sonne in seinem Rücken gewesen, und dennoch kam sie Robin auf eine sonderbare Weise bekannt vor. Auf eine sonderbar unangenehme Weise.
Sie nickte, wenn auch mit einiger Verspätung, und der Reiter ließ sich mit jenen gleichzeitig bedächtig wie auch irgendwie unaufhaltsam wirkenden Bewegungen aus dem Sattel gleiten, wie sie wirklich starken Männern zu Eigen sind. Er machte einen Schritt zur Seite, sodass Robin jetzt nicht mehr geblendet die Augen zusammenkneifen musste, um ihn anzusehen, hob dann beide Hände an den Kopf und streifte den klobigen Helm ab. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, trug die Spuren fast ebenso großer Entbehrungen, wie sie sie in denen der Plünderer gelesen hatte, war aber weitaus beeindruckender und wurde von grauem Haar und einem kurz geschnittenen, ebenfalls grau melierten Bart beherrscht.
Robins Atem stockte, als sie es erkannte. »Bruder ... Dariusz?«, murmelte sie fassungslos.
Der hoch gewachsene, grauhaarige Tempelritter nickte. In seinen Augen erschien etwas, von dem Robin nicht ganz sicher war, ob es sich wirklich um ein Lächeln handelte. »Ich war nicht ganz sicher, ob du mich noch erkennst, Bruder Robin«, sagte er. In ganz leicht verändertem, unangenehmerem Ton fuhr er fort: »Um offen zu sein, war ich auch nicht ganz sicher, was Euch anging. Ihr habt Euch verändert, Bruder. Aber mit dem Schwert könnt Ihr offensichtlich immer noch so gut umgehen wie früher. Wenn nicht besser.«
Er wartete einen Moment lang vergeblich auf eine Antwort, dann runzelte er kurz die Stirn, fuhr sich mit dem schweren Kettenhandschuh müde über das Gesicht und machte aus der gleichen Bewegung heraus eine fragende Geste in Richtung der Plünderer. »Wer ist der Anführer dieser Bande?«
Robin deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf Guy, der immer noch auf den Knien lag und die Hände an seinen blutenden Hals presste. Sie musste ihn schwerer verletzt haben, als sie es wollte, denn zwischen seinen Fingern sickerte hellrotes Blut in einem beständigen Strom hervor.
Dariusz winkte zwei seiner Turkopolen heran. »Hinrichten!«, sagte er knapp.
Die beiden Männer wollten sich gehorsam entfernen, um Dariusz’ Befehl auszuführen, doch Robin hielt sie mit einer raschen Geste zurück. »Das ist nicht nötig«, sagte sie hastig.
»Mir ist der Anblick von Anführern solcherart Diebespacks zuwider«, antwortete Dariusz verächtlich, gab den beiden Männern aber zugleich einen Wink, noch einen Moment zu warten. Sein Blick wurde fast lauernd, als er sich wieder zu Robin umdrehte. »Gerade hätte Euch dieser Bursche noch, ohne zu zögern, die Kehle durchgeschnitten, Bruder«, sagte er. »Woher diese plötzliche Sympathie?«
Robin schüttelte heftig den Kopf und bedauerte die Bewegung fast augenblicklich wieder, als sie spürte, wie ihr nur nachlässig gebundener Turban zu verrutschen drohte. Erst jetzt, als sie den ersten Schrecken überwunden hatte, kam ihr zu Bewusstsein, wie gefährlich die Situation war, in der sie sich befand. Möglich, dass das unübersehbare Misstrauen in Dariusz’ Augen einen gänzlich anderen Grund hatte, als sie annahm. Sie kannte Bruder Dariusz nicht nur als fanatischen Tempelritter und gnadenlosen Kämpfer, er war auch Bruder Abbés eingeschworener Feind - und somit ganz automatisch auch der ihre. Wenn er ihr Haar sah, das in den letzten beiden Jahren lang bis über ihre Schultern hinuntergewachsen war, würde er begreifen, was sie wirklich war. Und das wäre ihr sicheres Todesurteil und vermutlich noch nicht einmal nur das ihre.
»Für heute ist schon genug Blut geflossen, meine ich«, sagte sie. »Braucht das Königreich Jerusalem nicht jeden kämpfenden Mann? Nehmt sie mit und gebt ihnen Gelegenheit, sich im Kampf für die Christenheit zu bewähren. Hinrichten könnt Ihr sie immer noch, wenn sie Euch enttäuschen sollten.«
Ein lauernder Ausdruck erschien in Dariusz’ Blick. Unschlüssig sah er abwechselnd die Plünderer, deren Anführer und Robin an, dann rang er sich ein widerwilliges Nicken ab und machte eine entsprechende Geste zu seinen Männern. Mittlerweile waren gute zwei Dutzend Templer von ihren Pferden gestiegen und hatten die Plünderer entwaffnet und bereits sicher ergriffen. Einer nach dem anderen wurden sie nun auf die Knie gezwungen und ihre Hände hinter den Rücken gefesselt. Robin fragte sich, ob sie nicht gerade einen schweren Fehler begangen hatte. Diese Männer waren zweifellos Mörder und Diebe, die keinen Moment zögern würden, einem anderen für ein Stück Brot, eine Silbermünze oder auch nur so die Kehle durchzuschneiden, und wären Dariusz und seine Männer nicht im allerletzten Moment aufgetaucht, dann wäre sie jetzt tot und vermutlich auch eine Menge anderer - und doch sträubte sich etwas in ihr dagegen, einfach tatenlos zuzusehen, wie sie hingerichtet wurden. Es war genau so, wie sie gerade gesagt hatte: Für heute war hier genug Blut geflossen.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihre Entscheidung noch bedauern zu müssen.
»Ich werde heute Abend besonders inbrünstig zu Gott dem Herrn beten und eine Kerze zum Dank anzünden, Euch lebend wiedergesehen zu haben«, sagte Dariusz, schüttelte dabei aber den Kopf und musterte sie nur mit noch größerem Misstrauen.
»Manchmal lässt der Herr Zeichen und Wunder geschehen. Ich ging davon aus, dass Ihr seinerzeit in der Seeschlacht ertrunken wärt. Wir alle haben das geglaubt.«
Robin rettete sich in ein angedeutetes Schulterzucken. Wollte er ihr eine Falle stellen? Sie überlegte, dass die überzeugendsten Lügen stets die waren, die sich so dicht an der Wahrheit hielten, wie es gerade noch ging. Mit wenigen, betont beiläufigen Worten erzählte sie, wie sie während der Kämpfe über Bord gegangen und später von den Fischern aus genau diesem Dorf hier aus dem Meer gezogen worden war. Wenig später, berichtete sie - und auch das war die Wahrheit, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt -, war der Ort von Sklavenhändlern überfallen worden und sie selbst in Gefangenschaft geraten und an einen reichen Tuchhändler verkauft worden. Als ihr neuer Herr dann erkannte, wer sie war, habe er Kontakt zu den Assassinen aufgenommen, von denen bekannt war, dass sie ein Bündnis mit den Tempelrittern hatten, und so sei sie schließlich freigekauft worden.