»Verbrennt ihn. Und die beiden anderen Leichen gleich mit.«
Robin fuhr abermals herum und sog scharf die Luft ein. Lodernde Wut explodierte regelrecht in ihr, und vielleicht hätte sie etwas sehr Dummes getan, wenigstens aber gesagt, wäre nicht in diesem Moment vom anderen Ende des Dorfplatzes her ein schriller Schrei erklungen. Robin drehte erschrocken den Kopf, und ihr Herz machte einen Satz in ihrer Brust, als sie Nemeth erkannte, die mit weit ausgreifenden Schritten und schreckensbleichem Gesicht auf sie zugerannt kam. Ihre Mutter lief mit wehenden Kleidern hinter ihr hier, aber sie war viel zu langsam, um das Mädchen einzuholen.
»Robin!«, schrie Nemeth. Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Hat er dir etwas getan?«
»Eine Freundin von Euch?«, fragte Dariusz amüsiert.
Robin verschwendete keine Zeit damit, ihm zu antworten, sondern eilte Nemeth und ihrer Mutter so schnell entgegen, wie es gerade noch ging, ohne wirklich zu rennen. Sie hörte, wie Dariusz ihr folgte, aber langsamer, und beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Ihr Herz raste. Nemeth schrie immer noch aufgeregt ihren Namen und rannte auf sie zu, wild mit beiden Armen fuchtelnd und die blanke Angst im Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, Nemeth mit Blicken zu signalisieren, dass sie um Himmels willen den Mund halten sollte, aber das Mädchen war viel zu aufgeregt, um ihre Blicke auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
»Hat er dir etwas getan?«, sprudelte Nemeth hervor. »Ich habe alles gesehen! Er hat nicht fair gekämpft! Er hätte dich beinahe ...«
»Jetzt ist es aber genug!« Endlich war Saila heran, und sie fackelte nicht lange, sondern zerrte Nemeth grob an der Schulter zurück und fuhr ihr in scharfem Ton über den Mund, noch bevor Nemeth auch nur ein weiteres Wort sagen konnte: »Du dummes Kind! Was fällt dir ein, so respektlos mit unserem Herrn zu sprechen? Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nur mit ihm zu reden hast, wenn er dich direkt anspricht? Willst du uns alle ins Unglück stürzen? Unser Herr hat wahrlich Besseres zu tun, als sich mit dem Geschwätz eines dummen Kindes zu beschäftigen!«
Nemeth blinzelte und sah ihre Mutter einen Moment lang vollkommen verständnislos an, aber Robin warf ihr einen raschen, dankbaren Blick zu. Sie verbiss es sich, auch nur ein einziges Wort zu sagen, aber Saila musste ihr die Erleichterung deutlich ansehen, denn sie signalisierte ihr ein rasches, lautloses Nicken und fuhr dann in unverändertem Ton an ihre Tochter gewandt fort: »Geh ins Haus, und zwar sofort! Bereite eine Mahlzeit für den Herrn und seine Gäste vor, und untersteh dich, nicht nur das Beste aufzutragen!«
»Aber ich wollte doch nur ...«, begann Nemeth verdattert, kam aber auch diesmal nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu bringen.
»Hast du mich nicht verstanden?«, fuhr sie Saila an. »Mach, dass du ins Haus kommst! Über deine Strafe sprechen wir später!«
Einen Herzschlag lang starrte das Mädchen seine Mutter noch vollkommen fassungslos an, aber in deren Augen war plötzlich ein so zorniges Funkeln, dass sie es nicht mehr wagte, auch nur noch einen Laut von sich zu geben, sondern Robin nur noch einen hilflosen Blick zuwarf und sich dann wie der berühmte geprügelte Hund trollte. Saila sah ihr einen Moment lang mit perfekt geschauspielerter Strenge nach, ehe sie sich mit demütig gesenktem Kopf wieder zu Robin umdrehte.
»Ich bitte Euch, verzeiht das ungebührliche Benehmen meiner Tochter«, sagte sie leise. »Sie ist ein Kind und weiß es nicht besser.«
»Schon gut«, antwortete Robin. »Ich bin sicher, es war nur die Sorge um mich, die sie ihr gutes Benehmen vergessen ließ.« Sie machte eine übertrieben verzeihende Geste. »Jetzt geh und hilf deiner Tochter. Ich bin tatsächlich ein wenig hungrig, und wir haben hohe Gäste.« Sie wandte sich zu Dariusz um, der in zwei Schritten Entfernung stehen geblieben war und die Szene mit undeutbarem Gesichtsausdruck verfolgte. »Ihr bleibt doch zum Essen? Ihr müsst einen anstrengenden Weg hinter Euch haben.«
»Und einen noch anstrengenderen vor uns«, sagte Dariusz.
»Aber unsere Zeit ...«
»... ist knapp bemessen, ich weiß«, unterbrach ihn Robin. Sie lächelte flüchtig. »Aber ich weiß, wie die Feldrationen aussehen, und ich weiß noch besser, wie sie schmecken.« Ohne Dariusz’ Antwort abzuwarten, wandte sie sich mit einer entsprechenden Geste an Saila. »Geh jetzt. Und mach uns keine Schande.«
»Wie Ihr befehlt, Herr«, sagte Saila. Rückwärts gehend und mit gesenktem Kopf entfernte sie sich ein paar Schritte, ehe sie sich umdrehte und dann mit schnellen Schritten davoneilte.
Dariusz sah ihr mit gerunzelter Stirn nach. »Ein hübsches Weib«, sagte er kopfschüttelnd. »Wer ist sie?«
»Niemand«, antwortete Robin betont gleichgültig. »Nur eine Dienerin.«
»Eure Dienerin?«
»Zumindest so lange, wie ich Sheik Sinans Gast bin«, erwiderte Robin.
»Und ich nehme an, sie liest Euch jeden Wunsch von den Lippen ab«, fügte Dariusz mit einem flüchtigen, aber unverhohlen schmutzigen Lächeln hinzu.
»Wie es einer guten Dienerin eben ansteht«, sagte Robin ungerührt. »Aber nun kommt, Bruder Dariusz. Auch wenn Ihr wenig Zeit habt, so ist es doch sicher auch für Euch angenehmer, sie in der Kühle des Hauses und bei einer guten Mahlzeit zu verbringen.« Sie schüttelte rasch und heftig den Kopf, bevor Dariusz auch nur die Gelegenheit fand zu antworten. »Ich werde ein Nein nicht akzeptieren, Bruder Dariusz. Nach allem, was Ihr für mich und die guten Leute hier im Dorf getan habt, ist eine kräftige Wegzehrung wohl das Mindeste, was ich Euch als Dank anbieten kann.«
Dariusz sah sie auf sonderbare Weise nachdenklich an, eine Art der Nachdenklichkeit, die Robin nervös machte. Sie konnte es sich nicht wirklich erklären, hatte aber dennoch das nahezu sichere Gefühl, schon wieder einen Fehler gemacht zu haben.
Der grauhaarige Tempelritter ließ weitere, endlose Sekunden verstreichen, in denen er sie unverwandt und auf dieselbe, seltsame Art ansah, aber schließlich nickte er. »Warum eigentlich nicht«, murmelte er. »Gott wird es mir kaum als sündhafte Völlerei auslegen, endlich einmal wieder an einem richtigen Tisch zu sitzen und von einem richtigen Teller zu essen. Doch wir müssen in längstens einer Stunde aufbrechen, Bruder Robin. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Eine Stunde genügt«, behauptete Robin. »Ihr werdet sehen, dass Saila eine wahre Künstlerin der Improvisation ist. Sie zaubert in einer Stunde ein Festmahl, das andere nicht an einem Tag fertig bringen.« Sie lächelte, doch als sie Dariusz’ Blick begegnete und das irgendwie verwirrt wirkende Stirnrunzeln auf seinem Gesicht sah, erlosch ihr Lächeln wie eine Kerze, die von einem Luftzug ausgeblasen wird, und sie wandte sich fast hastig um und deutete in die Richtung, in der Saila und ihre Tochter verschwunden waren. Sicher war es nur Einbildung. Sie war übernervös, und Dariusz’ fragender Blick mochte tausend andere Gründe haben - und dennoch nahm sie sich vor, in seiner Nähe nicht mehr so oft zu lächeln.
Unter dem Turban war von ihrem Gesicht nicht allzu viel zu erkennen, und es war zudem lange her, dass Dariusz sie das letzte Mal gesehen hatte. Robin hatte sich in der Zwischenzeit deutlich verändert. Es kam selten vor, dass sie sich selbst im Spiegel oder auf einer spiegelnden Wasseroberfläche sah, doch in letzter Zeit fielen ihr die Veränderungen immer deutlicher auf. Sie war älter geworden; deutlich älter, als es allein anhand der verstrichenen Monate der Fall hätte sein dürfen. Ihre Haut hatte einen dunkleren, fast schon ein wenig kupferfarbenen Ton angenommen, und die leise Strenge, die immer in ihren Zügen gelegen hatte, hatte sich im Nachhinein als die Spur der Entbehrungen und Strapazen herausgestellt, aus denen ihr Leben vor ihrer Ankunft in diesem Land bestanden hatte.