Irgendwo in dem Durcheinander aus Dunkelheit und allmählich heller werdenden Schatten vor ihnen bewegte sich eine Gestalt. Irgendein Einwohner der Stadt, den es früh aus dem Haus getrieben hatte, vielleicht ein Bediensteter, ein Handwerker oder einer der zahllosen Händler, die immer wieder versuchten, ihnen ihre Ware anzupreisen, obgleich sie im Grunde genau wussten, wie fruchtlos diese Versuche bleiben mussten. Aber müde, wie sie immer noch war, erlag sie für einen winzigen Moment einer Vision. Einen einzelnen, schweren Herzschlag lang war sie sicher, die Gestalt zu erkennen, sah sie das schmale und doch kraftvolle Gesicht unter dem schwarzbraunen Tuch und begegnete dem Blick von Salims Augen.
Das Trugbild erlosch, aber was zurückblieb, war ein bitterer Geschmack auf ihrer Zunge. Sie fühlte sich schuldig. Sie wusste nicht, wann sie aufgehört hatte, an Salim zu denken - am zweiten Tag ihres Rittes, vielleicht auch erst am dritten -, aber irgendwann hatte sie ihn einfach vergessen.
So wie alles andere. Sheik Sinans Burg, Saila, all die Wochen und Monate, die sie auf der Festung der Assassinen verbracht hatte; selbst Salims Küsse und Liebkosungen begannen allmählich zu verblassen, kamen ihr schon jetzt beinahe wie die Erinnerungen einer Fremden vor, die sich nur durch einen Zufall in ihren Kopf verirrt hatten. Der unbarmherzige Gewaltmarsch, zu dem Dariusz die Männer zwang, forderte nicht nur körperlich seinen Preis. Abgesehen von den wenigen kostbaren Augenblicken gleich nach dem Erwachen und den vielleicht noch kürzeren Momenten vor dem Einschlafen hatte sie irgendwie aufgehört zu denken. Die Vergangenheit spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Zukunft.
Alles, was zählte, alles, worauf sie sich noch konzentrieren konnte, war die Gegenwart, der nächste Augenblick, der nächste Schritt, zu dem sie ihr Pferd zwang, das ebenso sehr unter der Hitze und dem Gewicht seiner Schabracke und des gepanzerten Reiters litt wie sie, der nächste Atemzug, mit dem sie die glutheiße Luft in die Lungen sog. Hätte sie noch die Kraft dafür gehabt, sie hätte das Schicksal und vielleicht sogar Gott verflucht für das, was ihr angetan worden war. Als Dariusz so urplötzlich vor ihr aufgetaucht war, da hatte sie nicht nur jemanden wieder getroffen, den sie nie mehr im Leben zu sehen wünschte. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt, und sie war mit der Wucht einer Naturkatastrophe über sie gekommen und hatte ihr Leben nicht bloß verändert, sondern zerschmettert. Robin war in der Hölle. Ganz gleich, was die Zukunft noch bringen mochte, es konnte nicht mehr schlimmer werden.
Und dennoch geschah etwas Sonderbares mit ihr, während sie im Gleichtakt der gepanzerten Schritte ihrer Ordensbrüder einherschritt. Es war nicht das erste Mal, dass es geschah, aber vielleicht das erste Mal, dass es ihr auffiel. Die weißen Mäntel der Ritter wippten im Rhythmus ihrer Schritte. Sie sahen ... erhaben aus, die Verteidiger der Christenheit, edel und gut, so wie sie selbst sich als kleines Mädchen immer einen Ritter vorgestellt hatte. Auch dieser Teil ihrer Vergangenheit war plötzlich so deutlich und mit solcher Intensität wieder da, dass sie plötzlich erschauderte. So absurd es ihr auch selbst vorkommen mochte - ein Teil von ihr war trotz allem von einem unbändigen Stolz erfüllt, ein Tempelritter zu sein.
Aber vielleicht war sie auch einfach nur müde.
Die Ritter bogen um die Ecke und in eine schmale Gasse. Vor ihnen lag eine winzige Kirche, aus deren offen stehender Tür ein dreieckiger Keil aus gelbem Kerzenlicht fiel, der verblasste, je weiter er sich von der Tür entfernte; wie um die Vergeblichkeit des Menschen zu symbolisieren, die Dunkelheit endgültig zu besiegen. Der blecherne Klang der Glocke, die sie gerade schon einmal gehört hatte, hob unter dem Dach der Kirche erneut an und rief nach ihnen. Als sie das enge Kreuzschiff betraten, hörte der Glockenhall auf, und die nachfolgende Stille erschien doppelt tief und auf eine sonderbare Weise beinahe bedrohlich.
Der Vormarsch der Ritter kam ins Stocken. Die Männer bewegten sich immer nur einen Schritt vor, blieben einen Moment stehen und gingen dann weiter, und schließlich war auch Robin an dem kleinen Marmorbecken nur ein Stück hinter der Eingangstür angelangt, das mit dem gesegneten Wasser des Jordans gefüllt war. Mit einem sonderbar frommen Schaudern, das sie selbst verwirrte, gegen das sie aber auch hilflos war, dachte sie daran, dass dieser heilige Fluss keine zwei Tagesritte entfernt lag. Noch zwei Tage, zweimal endlose Stunden voller unerträglicher Hitze, glühend heißem Sand, der in Augen, Nase und Mund drang und ihre Haut wund scheuerte, dann würde auch sie an den Ufern dieses heiligen Flusses stehen, und aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, erfüllte sie dieser Gedanke mit einem Stolz und einer Zuversicht, die sie beinahe erschreckte. Sie hatte so oft an ihrem Glauben gezweifelt, dass sie fast erstaunt war, noch einen - überraschend großen - Rest davon in sich zu finden. Gerade nach dem, was hinter ihr lag, sollte sie jeden Grund haben, Gott zu hassen oder zumindest an seiner angeblichen Liebe zu allen Menschen zu zweifeln, denn es waren Männer gewesen, die in seinem Auftrag handelten, die ihr alles genommen hatten.
Und dennoch war es möglicherweise gerade dieser Glaube gewesen, der ihr überhaupt die Kraft gegeben hatte, die letzten Tage durchzustehen. Vielleicht, überlegte sie, war sie auf das Geheimnis jeglichen Glaubens gestoßen. Vielleicht spielte es gar keine Rolle, an welchen Gott oder welche übergeordnete Macht man glaubte, vielleicht war es einfach wichtig, dass man glaubte.
Fast erschrocken verscheuchte sie den Gedanken, Laut ausgesprochen hätte er gereicht, sie auf dem nächsten Scheiterhaufen enden zu lassen. Es war Ketzerei. Nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn es vielleicht die Wahrheit war.
Die Reihe der schweigenden Gestalten rückte langsam weiter. Die Kirche war sehr schmal. Abgesehen von dem einfachen Jesusbildnis über dem Altar, mit Dämonenfratzen geschmückten Säulenkapitellen und dem silbernen Pokal, der auf dem Altar stand, gab es keinerlei Schmuck, und es brannten auch nur zwei einzelne Kerzen, deren Licht ihr nur so hell erschienen war, weil draußen nahezu vollkommene Dunkelheit herrschte.
Bruder Dariusz stand hoch aufgerichtet vor dem Altar. Der breitschultrige, hoch gewachsene und in jeder Beziehung imposant wirkende Ritter hatte den Waffengurt abgeschnallt und das Schwert schräg gegen den gelblich-weißen Altarstein gelehnt. Sein Helm lag nur eine Handbreit neben dem Pokal, und er hatte ihn so umgedreht, dass die schmalen Sehschlitze die versammelten Ritter argwöhnisch anzublicken schienen. Robin verspürte bei diesem Anblick ein eisiges Frösteln. Die Tempelritter nannten sich nicht umsonst Soldaten Christi. Sie waren Krieger, Männer der Waffen und der Gewalt. Und dennoch erschien ihr die brachiale Symbolik des Anblickes in diesem Moment fast gotteslästerlich.
»Lasset uns die Prima, die erste Stunde des neuen Tages, die Stunde des Sonnenaufganges, in feierlichem Gebet begrüßen«, unterbrach Dariusz die fast feierliche Stille, die in der kleinen Kirche herrschte.
Robin, aber Dariusz nicht mitgezählt, waren sie zu zwölft; alle anderen Mitglieder der kleinen Armee, die in Tyros angekommen war, waren nur Waffenknechte oder weltliche Ritter. Zwölf Männer, dachte Robin, so wie einst Jesus von zwölf Jüngern begleitet worden war, und ebenso wie er befanden sie sich auf dem Weg nach Galiläa, wo auch der Heiland einst seine Jünger um sich selbst versammelt hatte. Seltsam, dachte sie, welche fast fremdartigen Gedanken ihr plötzlich durch den Kopf schossen. Noch vor einer Woche hätte sie die bloße Vorstellung, so etwas zu denken, in schallendes Gelächter ausbrechen lassen. Aber diese Woche lag nicht nur geraume Zeit, sondern ein ganzes Leben zurück.
»Pater noster ...« Robin betete leise das Vaterunser nach, das Dariusz vorgab, und das Echo der anderen Stimmen klang zwölffach in ihren Ohren nach. Die Tempelritter knieten in einem Halbrund um den Altar, ihre Helme neben sich auf dem Boden, die Köpfe in tiefer Ergebenheit geneigt, und vielleicht war es einfach die Monotonie der Worte, vermengt mit ihrer noch immer nicht ganz überwundenen Müdigkeit und der Schwere ihrer Glieder, die sie die fast magische Kraft dieses Gebetes spüren ließ. Dreizehnmal wiederholten die Ritter das Vaterunser, um ihre Schuld zu begleichen. Dariusz hatte auf die Gebete zur Mitternacht verzichtet, damit sie zumindest ein Minimum an Schlaf bekamen, um Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln. In Kriegszeiten war es den Rittern des Ordens gestattet, das nächtliche Gebet ausfallen zu lassen.