Nachdem Robin das dreizehnte Vaterunser gesprochen hatte, verharrten sie alle noch einen Moment still und mit gesenkten Köpfen, und Dariusz gab ihnen Zeit für ein persönliches, stummes Gebet. Robin betete nicht. Sie dachte an Salim, aber die Kraft und Zuversicht, die ihr diese Gedanken spenden sollten, kehrten nicht ein. Vorhin hatte sie geglaubt, in dem Schatten draußen Salim zu erkennen, nun musste sie sich voller Schrecken eingestehen, dass es einer bewussten Anstrengung bedurfte, sich überhaupt an sein Gesicht zu erinnern. Sie war fast dankbar, als Dariusz sich als Erster erhob und damit das Zeichen für die anderen gab, es ihm gleichzutun.
Über den Gipfeln des Libanongebirges erschien ein erster, grauer Schimmer, als sie die Kirche verließen. Der erste Gruß des neuen Tages, noch vor dem Morgenrot. Schweigend begaben sie sich zurück zu dem Turm, in dem sie übernachtet hatten.
5. KAPITEL
Robins Magen knurrte vernehmlich, und der Mann, der neben ihr ging, warf ihr einen raschen, spöttischen Blick zu, in dem sie aber auch eine schwache Spur von Mitgefühl zu erkennen glaubte, das er für den jungen Ritter zu empfinden schien. Sie war ihm sehr dankbar dafür, auch wenn sie so tat, als hätte sie seinen Blick nicht einmal bemerkt. Nach allem, was sie verloren hatte, erschienen ihr solche kleinen Gesten, denen sie zuvor vermutlich nicht einmal Beachtung geschenkt hätte, mit einem Male ungeheuer kostbar. Zugleich war sie zornig auf ihren eigenen Körper, der ihre Schwäche so überdeutlich verriet. Sie war es gewohnt, bis nach Sonnenaufgang zu schlafen, in einem weichen, nach Rosenwasser und anderen kostbaren Essenzen duftenden Bett zu erwachen und eine gedeckte Frühstückstafel vorzufinden, die in ihrer Heimat eines Königs würdig gewesen wäre. Die erste Mahlzeit, die sie an diesem Tag bekommen würde, lag noch Stunden entfernt, und sie würde aus nichts anderem als dem warmen Wasser aus ihren Schläuchen und vielleicht einem Stück Brot und, mit viel Glück, einem schmalen Streifen gesalzenen Fleisches bestehen; gerade genug, um ihren Hunger richtig anzufachen, aber keinesfalls, um ihn zu stillen. Aber das war keineswegs ihre größte Qual. Obwohl der Tag noch nicht einmal begonnen hatte, war sie schon jetzt durstig. Ihre Lippen waren längst spröde geworden und aufgeplatzt, und ihre Kehle fühlte sich so rau und ausgedörrt an wie der Boden, über den sie seit fünf Tagen ritten. Zumindest die Mühe, die Pferde zu satteln, wurde ihnen abgenommen. Ihre Waffenknechte hatten die Tiere bereits fertig aufgezäumt und standen bereit, ihnen in die Sättel zu helfen, und nur wenige Augenblicke später übernahm Bruder Dariusz auf seinem prachtvollen, strahlend weißen Hengst die Führung des Dutzend weiß gekleideter Reiter, das sich wie eine Abteilung zorniger Engel in Richtung des Stadttores in Bewegung setzte, um sich mit dem draußen lagernden Heer zu vereinen. Selbst der kühle Hauch, der sie beim Verlassen des Turms begrüßt hatte, kam ihr mittlerweile stickig und schwül vor; er brachte keine Linderung mehr, sondern erschien ihr jetzt mehr wie eine Drohung, die ihr klarzumachen versuchte, dass der bevorstehende Tag noch heißer werden würde als die zurückliegenden. Zu allem Überfluss wurde ihr wieder übel; wobei es vor allem das wieder war, das ihr zu schaffen machte. In den letzten Tagen hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, sich binnen kurzer Zeit an das entbehrungsreiche Leben unter ihren ehemaligen Ordensbrüdern zu gewöhnen, aber ihr Körper hatte sie rasch eines Besseren belehrt.
Statt sich an die Strapazen zu gewöhnen, reagierte er immer heftiger darauf. Der Moment, in dem sie es gar nicht mehr in den Sattel schaffen würde, war abzusehen. Vor allem die ersten ein oder zwei Stunden am Morgen waren schlimm. Manchmal schlug die Schwäche mit solcher Gewalt über ihr zusammen, dass sie sich nur noch mit letzter Kraft auf dem Rücken ihres Pferdes halten konnte, und gestern war ihr vor Erschöpfung so übel geworden, dass sie sich um ein Haar übergeben hätte und den bitteren Geschmack der Galle, die sie heruntergeschluckt hatte, den ganzen Tag über nicht mehr losgeworden war. Wenn sie Safet irgendwann erreichten und es tatsächlich zu der großen Schlacht gegen Saladins Truppen kam, auf die Dariusz so zu brennen schien, dachte sie spöttisch, würde es keiner feindlichen Krieger mehr bedürfen, um sie aus dem Sattel zu werfen.
Sie mussten sich noch eine kleine Weile gedulden, bis auch die letzten Nachzügler eingetroffen waren, aber schließlich brach das kleine Heer auf, um in einen neuen Tag voller Gluthitze und Entbehrungen hineinzureiten. Das Dutzend Templer unter seiner wehenden weiß-roten Fahne bildete wie immer die Spitze des Heereszuges; die Spitze des eigenen Speeres, der auf das Herz von Saladins Heer zielte, wie Bruder Dariusz es ausgedrückt hatte. Robins Meinung nach war es allerdings ein Speer, der mit jedem Tag ein wenig mehr an Durchschlagkraft verlor. Der Sand der Wüste, durch die sie zogen, schmirgelte seine Klinge stumpf, und die endlosen Meilen, die sie Tag für Tag zurücklegten, ließen ihn immer mehr an Schwung verlieren.
Hinter Tyros schwenkten die Reiter nach Osten ab und bewegten sich in Richtung der letzten Ausläufer des Libanongebirges. Es war immer noch dunkel; der silbergraue Streifen, mit dem der neue Tag sein Nahen ankündigte, ließ die schroffen Gipfel und Grate der Berge wie präzise Scherenschnitte erscheinen, spendete darüber hinaus aber kein Licht, sodass alles, was davor lag, nur noch dunkler erschien; ein Meer aus Schwärze, das bereitlag, das kleine Häuflein ebenso unerschrockener wie närrischer Krieger zu verschlingen, das sich anmaßte, es durchqueren zu wollen.
Ohne Vorwarnung und mit solcher Wucht, dass sie sich wie unter einem Hieb krümmte, wurde ihr übel. Robin biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken, aber sie sank nach vorn und brach beinahe über dem Hals des Pferdes zusammen, ehe sie sich wieder weit genug in der Gewalt hatte, sich hochzustemmen und - wenn auch deutlich sichtbar hin und her schwankend - gerade im Sattel zu sitzen. Alles drehte sich um sie.
»Ist alles in Ordnung mit Euch, Bruder?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Robin überhaupt begriff, dass die Worte ihr galten, und mindestens noch einmal so lange, bis ihr Sinn durch den Nebel aus Schwäche und Übelkeit drang, der sich um ihre Gedanken gelegt hatte. Mühsam drehte sie den Kopf und fuhr leicht erschrocken zusammen, als sie in dem Mann, der sie angesprochen hatte, nicht mehr denjenigen ihrer Ordensbrüder erkannte, neben dem sie losgeritten war. Vielmehr hatte Dariusz seinen Platz mit ihm getauscht, ohne dass sie es auch nur gemerkt hatte.
»Sicher«, antwortete sie ganz instinktiv. Mit ihr war alles in Ordnung. Hitze und Kälte jagten abwechselnd und in immer rascherer Folge über ihren Rücken, jeder einzelne Knochen im Leib tat ihr weh, und ihr war noch immer so übel, dass sie Mühe hatte, überhaupt zu antworten, aber sonst war alles in Ordnung mit ihr. Trotzdem fügte sie hinzu: »Warum fragt Ihr?« Und was ist an meiner Befindlichkeit so enorm wichtig, dass Ihr deswegen Euer Schweigegelübde brecht?
»Weil Ihr nicht so ausseht, als wäre alles in Ordnung«, antwortete Dariusz im scharfen Tonfall eines Verweises. »Ihr seht im Gegenteil so aus, als hättet Ihr alle Mühe, Euch im Sattel zu halten, Bruder Robin.«