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Sie schüttelte auch diesen Gedanken ab, fuhr sich mit der Zungenspitze über die rissigen, aufgeplatzten Lippen und versuchte in Gedanken abzuschätzen, wie lange es noch bis Sonnenaufgang war; vermutlich eine Stunde, wenn nicht mehr. Dariusz ließ die Truppe nicht jeden Tag zur selben Stunde losziehen, sondern machte den Zeitpunkt ihres Aufbruches abhängig von der Strecke, die das Heer bis zu seinem nächsten sicheren Lagerplatz zurücklegen musste. Am vergangenen Abend hatte ihnen Dariusz sogar gesagt, wie viele Meilen heute vor ihnen lagen, aber Robin hatte die Zahl vergessen; wie so vieles.

Bis die Sonne wirklich aufging, verging noch beinahe eine Stunde, und eine weitere, bis sie das erste Mal anhielten, um ein karges Frühstück einzunehmen: lauwarmes schales Wasser aus ihren Schläuchen, eine Hand voll Dörrobst, mit dem sie nicht gerechnet hatte, und ein schmaler Streifen gesalzenen Fleisches, das ihren Hunger nicht stillte, ihrem Durst aber neue Nahrung gab. Sie widerstand nur mit Mühe dem Wunsch, mehr zu trinken. Schon eine Stunde nach Sonnenaufgang war es unerträglich heiß, und der Tag war noch lang und ihre Wasservorräte begrenzt. Nach einer viel zu kurzen Rast befahl Dariusz ihnen, wieder aufzusitzen, und sie setzten ihren Weg nach Osten fort.

Sie durchquerten ein sanftes Hügelland, aus dem einzelne graubraune Felsriffe aufragten. Im Norden sah man die Gipfel der höheren Berge, doch bereits hier machten Hügel und Talsenken das Land unübersichtlich. Es gab viele kleine Bäche, zum Teil nur schmale Rinnsale in Betten aus Felstrümmern, an deren Ufern üppiges Grün wuchs und an denen man Pappeln und dichtes Buschwerk, aber auch hohes Gras fand, wie Robin es noch nie gesehen hatte. Immer wieder sahen sie kleine Herden aus Schafen oder Ziegen über die Hügel ziehen, ohne dass sie allerdings auch nur eine Spur ihrer Hirten gewahrten, die vermutlich vor dem heranziehenden Heer geflohen waren.

Die Templer ritten schweigend. Dariusz klopfte sich ständig den Staub aus seinem weißen Umhang, während die anderen Ritter in dieser Beziehung etwas großzügiger waren. Das Weiß ihrer Mäntel und Wappenröcke strahlte schon längst nicht mehr so wie am Morgen; und nicht mehr annähernd so sehr wie an dem Tag, an dem sich Robin Dariusz und seinen Begleitern angeschlossen hatte. Den Rittern folgten leicht bewaffnete Reiter, die lediglich einen Gambeson und Hosen aus Leinen trugen. Einige wenige hatten Helme, die meist nach orientalischer Art mit einem Tuch umwickelt waren; eine kleine Eigenmächtigkeit der Männer, die ganz gewiss nicht Dariusz’ Beifall fand, die Hitze unter den Helmen aber wahrscheinlich ein bisschen erträglicher machte. Die meisten Männer waren mit Schwertern und Bögen bewaffnet, nur einige wenige besaßen zusätzlich auch einen Speer. Ihre Gambesons waren von einem schmutzigen Weiß, mit einem roten Tatzenkreuz über dem Herzen.

Auch ein Trupp Ritter in bunten Waffenröcken und mit langen, tropfenförmigen Schilden hatte sich ihnen beim Aufbruch in Tyros angeschlossen. Sie sangen und lachten und hielten alles andere als eine feste Marschordnung. Der Unterschied zu den schweigsamen Templern war so gewaltig, wie er nur sein konnte.

Schon lange vor der Mittagsstunde flimmerte die Luft über dem Hügelland vor Hitze, und Robin kämpfte wieder gegen die Übelkeit. Streng genommen hätte es heißen müssen: immer noch. Sie war nie vollkommen verschwunden, sondern hatte die ganze Zeit am Rande ihrer Empfindungen gelauert wie ein geduldiges, lautloses Raubtier, das auf seine Chance wartet, sie anzuspringen, um sie in einem Moment der Schwäche oder auch nur der Unaufmerksamkeit zu überwältigen. Robin würde ihr diese Gelegenheit nicht geben, aber allein ihre Anwesenheit bereitete ihr immer größere Sorgen. Während der beinahe zwei Jahre, die sie auf Sheik Sinans Burg gelebt hatte, hatte sie weit mehr gelernt als nur die Kampfkunst der Assassinen. Gerade von Saila hatte sie viel über den menschlichen Körper und seine Funktion gelernt, und so war ihr auf beunruhigende Weise klar, was mit ihr geschah: Sie war nicht nur am Ende ihrer Kräfte, sie lief Gefahr, unter ihrer schweren Kleidung und dem zentnerschweren Kettenhemd einen Hitzschlag zu erleiden - was sie zweifellos in äußerste Bedrängnis bringen würde. Wenn sie aus dem Sattel fiel oder gar das Bewusstsein verlor, bestand durchaus die Gefahr, dass ihre Brüder ihr die Rüstung auszogen, um ihr Linderung zu verschaffen, und dann ...

Nein, daran wollte sie lieber nicht denken.

Zur Mittagsstunde machte der Trupp Rast bei einer Ruine, die auf einem schroffen Hügelkamm lag. Robin fiel mehr aus dem Sattel, als sie vom Pferd glitt, und taumelte halb blind in den nächstbesten Schatten. Erschöpft sank sie zu Boden und griff mit zitternden Händen nach ihrem Wasserschlauch.

Sie hatte ihn kaum an die Lippen gesetzt, als Dariusz vor ihr auftauchte. »Ihr seid an der Reihe, Wache zu halten«, sagte er knapp. »Ihr seid Bruder Rother zugeteilt.«

Robin sah müde zu dem grauhaarigen Tempelritter hoch. Dariusz stand mit dem Rücken zur Sonne, sodass sie heftig blinzeln musste und den Ausdruck auf seinem Gesicht trotzdem nicht erkennen konnte. Seine Stimme jedenfalls war frei von jeglicher Emotion. Dennoch war sie ziemlich sicher, dass sie jetzt die Quittung für ihre despektierlichen Worte vom Morgen bekam.

Sie ersparte sich jede Antwort, sondern stemmte sich stattdessen mühsam wieder in die Höhe. Dariusz streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, aber Robin spürte die Falle im letzten Moment und stemmte sich aus eigener Kraft auf die Beine. Prompt wurde ihr wieder schwindelig, aber sie biss die Zähne zusammen, antwortete nur mit einem knappen Nicken und wandte sich mit einer erschöpften Bewegung zu dem schlanken Ritter um, der neben Dariusz stand.

Bruder Rother konnte nicht viel älter als Salim sein, auch wenn ein Leben voller Entbehrungen und Leid deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatte. Aber er hatte freundliche Augen, deren unerschütterliche Lebensfreude selbst die Jahre im Weiß und Rot des Templergewandes nicht vollkommen hatten auslöschen können. Sein Blick schien Robin etwas signalisieren zu wollen, was sie nicht verstand, worauf sie aber trotzdem reagierte: Ohne ein weiteres Wort in Dariusz’ Richtung wandte sie sich um und ging mit schleppenden Schritten in Richtung der Ruine los, auf die der Templer gedeutet hatte.

»Ihr müsst durstig sein, Bruder«, sagte Rother - leise und erst, nachdem sie sich zuverlässig aus Dariusz’ Hörweite entfernt hatten. Er hielt ihr seinen Wasserschlauch hin, und Robin unterdrückte im letzten Moment den Impuls, danach zu greifen. Sie waren aus Dariusz’ Hör-, aber bestimmt nicht aus seiner Sichtweite, und der Umstand, dass sie selbst vor lauter Erschöpfung einfach vergessen hatte, ihren eigenen Wasserschlauch mitzunehmen, war ihr einfach peinlich. Gerade nach dem Gespräch, das sie am Morgen mit Dariusz geführt hatte, wollte sie sich in seiner Gegenwart nicht mehr das mindeste Zeichen von Schwäche erlauben.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wiederholte Rother sein Angebot nicht. Der Rhythmus seiner Schritte änderte sich, und Robin glaubte zuerst, er würde schneller gehen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Trotzdem hatte sie immer noch Mühe, mit ihm Schritt zu halten, und als sie endlich die Ruine erreichten und sich im Schutz des kümmerlichen Schattens zusammenkauerten, den die abbröckelnden Mauern warfen, war sie dem Zusammenbruch nahe.

»Hier.« Rother hielt ihr den Wasserschlauch hin und machte ein ärgerliches Gesicht, als Robin immer noch zögerte, danach zu greifen. »Nehmt schon. Bruder Dariusz sieht es nicht. Und ich werde es ihm nicht sagen.«