Robin zögerte - vollkommen widersinnigerweise - noch einmal, aber dann griff sie mit beiden Händen zu, riss Rother den Schlauch regelrecht aus den Fingern und trank so gierig, dass ihr das Wasser am Kinn hinablief und auf ihr Gewand tropfte. Die ersten Schlucke schienen ihren Durst eher noch anzustacheln, und sie trank fast noch schneller weiter, achtete aber jetzt darauf, nichts mehr von dem kostbaren Nass zu verschwenden. Trotzdem war Rothers Schlauch mehr als zur Hälfte geleert, als sie ihn endlich absetzte und mit schlechtem Gewissen zurückgab. »Danke«, seufzte sie. »Ich hatte das Gefühl zu verdursten.«
»Was nicht zu übersehen war.« Rother machte Anstalten, seinen Schlauch wieder zu verschließen, deutete aber dann nur ein Schulterzucken an, forderte Robin mit einer entsprechenden Geste auf, mit den Händen eine Schale zu formen, und goss ihr das lauwarme Wasser hinein, als sie gehorchte. Robin schöpfte sich das Wasser ins Gesicht und rieb sich den Rest in den Nacken und auf die Schläfen. Es tat unglaublich gut.
»Danke«, sagte sie noch einmal.
»Ihr hattet es nötig«, antwortete Rother.
»Das stimmt - aber jetzt habt Ihr kein Wasser mehr«, sagte Robin mit einer Kopfbewegung auf Rothers Schlauch, der nun tatsächlich so gut wie leer war, »und die heißesten Stunden des Tages stehen uns erst noch bevor.«
»Das ist nicht das Problem«, antwortete Rother mit einer wegwerfenden Handbewegung. »An Wasser herrscht hier kein Mangel.«
»Aber Bruder Dariusz will nicht, dass wir unsere Schläuche auffüllen«, sagte Robin. Das entsprach der Wahrheit. Dariusz bestand darauf, dass sie mit dem Vorrat an Wasser auskamen, den sie in ihren Schläuchen mit sich führten; gleich, ob sie nun durch glühende Wüste oder durch nasses Sumpfland ritten. Zweifellos hatte er seine Gründe dafür, aber Robin argwöhnte, dass sie nicht die Einzige war, die das einfach nur als unnötige Schikane betrachtete.
»Bruder Dariusz«, antwortete Rother ruhig, aber betont, »ist ein Leuteschinder.« Er lächelte knapp. »Und er ist weit weg.« Vorsichtshalber warf er einen raschen Blick über die Schulter zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, wie um sich im Nachhinein davon zu überzeugen, dass seine Worte auch den Tatsachen entsprachen; eine winzige Geste, die ihn Robin schlagartig noch sympathischer werden ließ. »Wenigstens weit genug. Ich fülle meinen Schlauch auf, bevor wir zu den anderen zurückgehen - vorausgesetzt, Ihr verratet mich nicht«, fügte er mit einem übertrieben verschwörerischen Blinzeln hinzu.
»Ich denke darüber nach«, sagte Robin.
Rother lachte, nicht einmal besonders laut, aber es war ein so ehrliches, befreites Lachen, dass Robin nicht anders konnte, als darin einzustimmen. Es war das erste Mal, seit sie das Fischerdorf verlassen hatte, und ihr wurde auch sofort wieder schmerzlich bewusst, warum sie sich das Lachen selbst verboten hatte. Sie rettete sich in einen nicht einmal vollkommen geschauspielerten Husten und ballte die rechte Hand vor dem Gesicht, aber der Schaden war möglicherweise schon angerichtet. Rother lächelte weiter, aber in seinen Augen erschien plötzlich ein neuer Ausdruck, der Robin einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
»Ist auch wirklich alles in Ordnung mit Euch?«, fragte er.
»Ja.« Robin nickte mühsam und verfluchte sich in Gedanken für das geschauspielerte Husten, zu dem sie Zuflucht gesucht hatte und das sich mittlerweile zu einem echten Hustenanfall gesteigert hatte. »Ich bin einfach nur ...«
»Erschöpft?«, schlug Rother vor, als sie den Satz nicht zu Ende brachte, sondern abermals in ein qualvolles Husten ausbrach. Er nickte. »So wie wir alle.«
»Ich falle Euch zur Last, nicht wahr?«, murmelte Robin.
»Wie alt seid Ihr, Robin?«, fragte Rother, statt ihre Frage zumindest der Höflichkeit halber zu verneinen.
»Ich weiß es nicht genau«, gestand Robin - was der Wahrheit entsprach. Zeit hatte in dem kleinen friesischen Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, nicht annähernd eine so große Rolle gespielt wie hier; vielleicht, weil die Zeit eben dieses Dorf auch fast vergessen hatte. Es war ihr peinlich, das zuzugeben, aber Rother schien keinen sonderlichen Anstoß daran zu nehmen; vielleicht, weil es auf der anderen Seite auch nicht so außergewöhnlich war.
»Auf jeden Fall noch sehr jung«, fuhr er mit einem neuerlichen, angedeuteten Lächeln fort. Auch dazu sagte Robin vorsichtshalber nichts, obwohl sie es gekonnt hätte. Der dunkelhaarige Tempelritter konnte nicht sehr viel älter sein als sie. Allenfalls in Salims Alter, wenn überhaupt. »Man erzählt sich, Ihr hättet die letzten beiden Jahre in der Gefangenschaft der Assassinen verbracht?«
Robin überlegte sich ihre Antwort sehr genau, und allein um Zeit zu gewinnen, fuhr sie sich mehrmals mit der Zungenspitze über die Lippen, die noch immer rissig und aufgeplatzt, zum ersten Mal seit Tagen aber nicht mehr so rau wie sonnenverbrannter Stein waren. Schweigegelübde hin oder her - natürlich war ihr klar, dass die Männer hinter ihrem Rücken über sie redeten. Sie wusste bloß nicht, was. Ganz instinktiv wollte sie Rother vertrauen, einfach seiner kleinen, menschlichen Geste von gerade wegen, und weil er ihr sympathisch war, doch sie war schon zu oft auf ein freundliches Gesicht und ein zuvorkommendes Wort hereingefallen, um sich einem Fremden öffnen zu können. »Ich war bei den Assassinen«, antwortete sie ausweichend.
»Aber nicht als ihr Gefangener?«, vermutete Rother.
Wieder richtete sich Robin ein wenig auf, drehte sich halb um und deutete in die Richtung zurück, in der Dariusz und die anderen Ritter in gut einhundert Schritten Entfernung lagerten, und wieder diente diese Geste einzig dem Zweck, Zeit zu gewinnen.
»Ihr wisst, dass ich zusammen mit Bruder Dariusz in dieses Land gekommen bin, Bruder Rother?«
Der Templer antwortete mit einer Mischung aus einem Nicken und einem Kopfschütteln. »Rother reicht«, erklärte er lächelnd.
»Dann habt Ihr vielleicht auch davon gehört, dass wir von Piraten überfallen worden sind«, fuhr Robin fort, die eine Hälfte seiner Bewegung als Zustimmung deutend. »Es ist eine lange Geschichte, aber sie läuft darauf hinaus, dass ich in Gefangenschaft geriet und als Sklave verkauft wurde. Der Herr der Assassinen hat mich freigekauft, und vielleicht bin ich tatsächlich noch so etwas wie sein Sklave. Immerhin hat er den Preis für mich bezahlt. Aber behandelt haben sie mich wie einen Gast.«
»Ihr wart auf seiner Burg?« Rothers Augen wurden groß.
»Auf der Burg des Alten vom Berge?«
Robin gemahnte sich innerlich zu noch größerer Vorsicht.
»Ja«, sagte sie. »Aber bevor Ihr fragt Bru ... Rother«, korrigierte sie sich rasch. »Ich habe nichts von all den Wundern und himmlischen Freuden gesehen, die es dort angeblich geben soll. Aber auch nichts von den Schrecken der Hölle. Vielleicht hat man mir nicht alles gezeigt, doch soweit ich es erlebt habe, ist es nichts als eine ganz normale Burg. Wenn auch die gewaltigste, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.«
»Dann habt Ihr Akkon noch nicht gesehen«, gab Rother zurück. »Oder Kerak. Aber das ist nicht der Punkt ... Ihr wart fast zwei Jahre lang Gefangener der Assassinen, und auch wenn sie Euch als Gast behandelt haben, so seid Ihr doch in diesen zwei Jahren nicht mit uns geritten. Was Dariusz von Euch verlangt, ist unmöglich.«
Robin wollte widersprechen, aber Rother schnitt ihr mit einer raschen Bewegung das Wort ab und sah noch einmal über die Schulter zurück, bevor er weitersprach. »Ich habe gehört, was Ihr heute Morgen zu Dariusz gesagt habt, Robin. Und nicht nur ich. Wir alle haben es gehört.«
»Oh«, machte Robin betroffen. Sie sah Rother fast ängstlich an, aber der junge Tempelritter schüttelte nur abermals den Kopf und zwang ein rasches, beruhigendes Lächeln auf seine Lippen, das seine Wirkung zwar hoffnungslos verfehlte, dessen gute Absicht Robin aber spürte. »Ihr habt Recht, Robin«, sagte er.