»Warum nutzt Ihr die Gelegenheit nicht und ruht Euch noch ein wenig aus?«, fragte Rother. Er wirkte fast verärgert, auf jeden Fall aber ertappt; möglicherweise hatte er tatsächlich stehend und mit offenen Augen geschlafen, eine Fähigkeit, die viele ihrer ehemaligen Ordensbrüder im Laufe der Jahre zu wahrer Meisterschaft entwickelt hatten.
»Ihr habt schon ...« Robin verbesserte sich: »DU hast schon genug für mich getan, Rother. Und Dariusz würde nur misstrauisch, wenn ich zu ausgeruht von der Wache zurückkehre.«
Rother sah sie an, als wisse er nicht genau, was er von diesen Worten zu halten habe, hob aber dann nur die Schultern und löste sich mit einem leisen Seufzen von seinem Halt. Er nahm die Arme herunter, während er sich umdrehte und aus eng zusammengekniffenen Augen zu Dariusz und den anderen Rittern zurücksah. »Wenn du schon einmal da bist ...«
»Ja?«
Rother deutete mit einer Kopfbewegung auf den Wasserschlauch zu seinen Füßen, und Robin verstand. »Geh ihn ruhig auffüllen«, sagte sie. »Ich halte inzwischen Wache.«
Der junge Tempelritter lächelte flüchtig, als hätte sie einen guten Scherz zum Besten gegeben, bückte sich nach dem Schlauch und begann mit erstaunlichem Geschick die nahezu lotrechte Abbruchkante hinunterzuklettern. Robin folgte seinen Bewegungen aufmerksam, drehte sich zwischendurch aber auch immer wieder um und sah zu Dariusz und dem Rest des Heeres zurück. Die Hand voll Templer lagerte ein Stück abseits der Haupttruppe. Die meisten Männer hatten sich erschöpft zu Boden sinken lassen und redeten leise miteinander; etliche stierten auch einfach nur ins Leere oder hatten versucht, sich unauffällig in den kümmerlichen Schatten zu setzen, den ihre eigenen Pferde warfen.
Robin fragte sich, warum Dariusz die Hand voll Männer nicht alle hier auf die Ruine geführt hatte. Das winzige Geviert aus zerfallenen Steinen war zwar nicht groß, doch die Schatten hätten gereicht, ihnen wenigstens die Illusion von Linderung zu vermitteln. Er gewann nichts, wenn er seine Männer dort draußen ungeschützt in der Gluthitze lagern ließ. Vielleicht war es einfach wieder eine seiner verrückten Übungen, mit denen er die Krieger abzuhärten meinte. Je länger sie über den hochrangigen Tempelritter nachdachte, desto weniger verstand sie, warum er so war, wie er war. Dariusz war gewiss kein guter Mensch, er war niemand, dessen Nähe sie gesucht oder dessen Freundschaft sie auch nur gewollt hätte, aber er war auch kein Dummkopf. Robin hatte es nie endgültig herausgefunden - es hatte sie auch nicht wirklich interessiert -, aber sie wusste, dass Dariusz in der komplizierten Hierarchie des Ordens noch ein gutes Stück über ihrem Mentor Abbé rangierte, und er wäre nicht so schnell und weit aufgestiegen, wäre er nichts weiter als ein einfältiger Leuteschinder.
Dennoch war ihr schon auf dem Schiff während der Überfahrt von Genua aus aufgefallen, wie unbarmherzig er seine Leute antrieb und was für übermenschliche Ansprüche er an sie stellte. Der Fairness halber musste sie zugeben, dass Dariusz bei sich selbst keine anderen Maßstäbe anlegte oder wenn, dann allenfalls noch strengere. Aber das machte es eher schlimmer. Auch er musste mit seinen Kräften längst am Ende sein. Sie verstand längst nicht mehr, was ihn antrieb und warum er immer mehr und mehr von sich und den Seinen verlangte, obwohl ihm sein Verstand ganz zweifellos sagen musste, dass Willenskraft und Entschlossenheit allein nicht ausreichten, eine Schlacht zu gewinnen, wenn der Arm einfach nicht mehr die Kraft hatte, das Schwert zu führen. Und was sie gerade in Rothers Augen gelesen und zwischen seinen Worten gehört hatte, ließ sie zu der Überzeugung kommen, dass sie mit ihrer Einschätzung nicht allein war.
Nachdem sie sicher war, dass niemand zu ihnen kommen würde und sie auch vor Dariusz’ neugierigen Blicken halbwegs geschützt waren, wandte sie sich um und sah zu Rother hinab. Der Ritter hatte den halb ausgetrockneten Bachlauf mittlerweile erreicht und war auf ein Knie gesunken, um seinen Wasserschlauch zu füllen. Er drehte langsam den Kopf nach links und rechts und wieder zurück, um seine Umgebung dabei aufmerksam zu studieren, und irgendetwas schien dabei sein Misstrauen zu erregen. Sorgfältig füllte er seinen Schlauch und legte ihn neben sich auf den Boden, schöpfte sich dann ein paar Hand voll Wasser ins Gesicht und stand auf, kehrte aber nicht sofort zurück, sondern drehte sich noch einmal langsam um sich selbst, wobei Robin selbst auf die große Entfernung erkennen konnte, wie misstrauisch und aufmerksam sein Blick den Boden abtastete. Schließlich entfernte er sich ein paar Schritte, kniete erneut nieder und fuhr mit den Fingerspitzen über das ausgedörrte Braun und Ocker der Erde. Dann hob er den Kopf und blickte fast eine Minute lang reglos nach Osten.
Robin fragte sich, ob er etwas entdeckt hatte, und wenn ja, was. Auch sie sah in die entsprechende Richtung, aber das Bild hatte sich nicht geändert: Hier und da graste eine Ziege, und in vielleicht zwei oder drei Meilen Entfernung trottete eine einsame Schafherde dahin, und nahezu am Horizont, gerade an der Grenze der Entfernung, ihn überhaupt noch sehen zu können, schwebte ein dunkler Punkt am Himmel; vielleicht ein einsamer Falke, dessen scharfes Auge die Wüste unter ihm nach Beute absuchte.
Endlich wandte sich Rother um, hob seinen Schlauch auf und kam zurück. Am Fuße des Felsabsturzes blieb er stehen, warf Robin den Schlauch zu - sie fing ihn geschickt auf, aber er war so prall gefüllt und unerwartet schwer, dass sie einen Schritt zurücktaumelte und ihre liebe Mühe hatte, nicht zu stürzen - und begann dann mit einem Geschick, das in Robin ein heftiges Gefühl absurden Neids hervorrief, die Wand wieder heraufzuklettern.
»Hast du irgendetwas ... entdeckt?«, fragte Robin zögernd. Rothers Gesicht hatte einen beunruhigend ernsten Ausdruck angenommen.
Er griff nach seinem Schlauch, warf ihn sich mit einer geschickten Bewegung über die Schulter und drehte sich in dieselbe Richtung, in die er gerade so gebannt geblickt hatte, bevor er antwortete. »Ich bin nicht sicher«, sagte er, mehr zu sich selbst gewandt als wirklich an Robin. »Da ... waren Spuren.«
»Reiter?«, fragte Robin beunruhigt.
Wieder vergingen etliche Augenblicke, bevor Rother antwortete. »Ja. Aber sie könnten alt sein. Einen Tag oder auch zwei.« Er hob fast hilflos die Schultern, eine Bewegung, die durch den prall gefüllten Schlauch auf seinem Rücken sonderbar unbeholfen wirkte. »Ich bin nicht besonders gut im Spurenlesen, um ehrlich zu sein.«
»Aber hier ist doch nichts«, antwortete Robin nervös. »Ich meine: Niemand könnte sich hier ...«
»Die Sarazenen sind Meister im Verstecken und Anschleichen«, unterbrach sie Rother. Sein Blick tastete misstrauisch über das Muster aus Braun und blassem Grün, das sich unter ihnen ausbreitete wie ein zu groß geratener Flickenteppich. »Zwischen diesen Dünen kann sich eine ganze Armee verstecken.« Er warf Robin einen flüchtigen Blick zu, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie seine Worte auch verstanden hatte, dann wandte er sich wieder nach Osten, und seine Hand deutete auf die Schafherde, die Robin gerade schon beobachtet hatte; über die große Entfernung hinweg waren es nicht mehr als einige Dutzend heller Punkte, die immer wieder mit dem fleckigen Braun der Wüste zu verschmelzen schienen oder manchmal auch wie aus dem Nichts daraus auftauchten. »Man muss die Herden beobachten«, fuhr Rother fort, noch leiser und jetzt in einem Ton, von dem Robin nicht mehr sagen konnte, ob er nachdenklich, besorgt oder vielleicht schon alarmiert klang. »Wenn sie die Hänge hinauf fliehen, könnte das ein Hinweis sein.«