So wie diese Herde?, dachte Robin unbehaglich. Die Tiere waren gerade ein Stückchen zu weit weg, als dass sie sicher sein konnte. Aber gerade, als sie schon einmal zu ihnen hingesehen hatte, waren sie ihr irgendwie ... ruhiger erschienen.
»Siehst du die Staubwolke dort hinten?«, fragte Rother plötzlich. Seine Hand deutete jetzt auf einen Punkt ein kleines Stückchen links neben der Schafherde. Robin strengte ihre Augen an, und tatsächlich, da war etwas - aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es tatsächlich die Staubwolke war, für die Rother es zu halten schien, oder nur das Flimmern heißer Luft über dem Sand.
»Besser, wir sagen Dariusz Bescheid«, entschied Rother.
Nebeneinander verließen sie die Ruine wieder und kehrten zu den anderen Rittern zurück. Als Robin aus den Schatten heraustrat, war es wie ein Schlag. Die Hitze schien sich verdoppelt zu haben, und sie hatte das Gefühl, geradewegs in einen Backofen hineinzutreten. Augenblicklich brach ihr der Schweiß aus, und ihre Hände begannen zu zittern. Die Gestalten der anderen Tempelritter und ihrer Pferde schienen sich in weiße Schemen aufzulösen, die sich in eine Richtung zu bewegen versuchten, die es gar nicht gab. Ihr Herz hämmerte, als sie die Reiter erreichten und Dariusz sich mit einer fließenden Bewegung erhob, um ihnen entgegenzutreten.
»Was ist geschehen?«, fragte er unwillig. »Wieso verlasst ihr euren Posten?«
Rother setzte zu einer Antwort an, aber Dariusz schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab, bevor er auch nur einen Ton herausbringen konnte. Sein Gesicht verfinsterte sich noch weiter, während sein Blick über den gefüllten Schlauch über Rothers Schulter tastete und schließlich - für Robins Geschmack gerade einen Moment zu lange - an den dunklen Wasserflecken auf seinem Gewand hängen blieb.
»Ihr habt Wasser gefunden, wie ich sehe«, sagte er.
»Ein kleiner Bach, nicht weit von hier«, bestätigte Rother.
»Und dabei ...«
Abermals brachte Dariusz ihn mit einer zornigen Handbewegung zum Schweigen. Ohne ein weiteres Wort trat er auf Rother zu, nahm ihm den Schlauch von der Schulter und goss das Wasser langsam vor seinen Füßen aus. Es versickerte so schnell, dass der Sand sich nicht einmal richtig dunkel färbte.
»Jetzt berichtet«, sagte er kühl.
Rother starrte den leeren Schlauch vor seinen Stiefelspitzen einen Herzschlag lang finster an, doch als er wieder zu Dariusz aufsah, war ihm nicht mehr die geringste Regung anzusehen.
»Ich habe Spuren gefunden«, sagte er ruhig, »nur ein kleines Stück hinter der Ruine. Reiter. Zwei, vielleicht drei. Aber ich kann nicht sagen, ob sie frisch sind.«
»Und eine Staubwolke«, fügte Robin hinzu. »Im Osten.«
»Eine Staubwolke, so«, wiederholte Dariusz. »Mehr nicht?«
Robin tauschte einen unsicheren Blick mit Rother. »Es könnte immerhin bedeuten ...«, begann sie, wurde aber ebenfalls und fast sofort von Dariusz unterbrochen: »Ich weiß sehr wohl, was es bedeuten könnte, Bruder Robin. Aber das muss es nicht, oder?« Ganz offensichtlich erwartete er keine Antwort auf seine Frage, denn er fuhr mit einem Kopf schütteln und praktisch sofort fort: »Dieser Landstrich ist sicher. Alles, was es hier gibt, sind ein paar Banden von Räubern und Halsabschneidern. Sie müssten verrückt sein, sich mit uns anzulegen.«
»Vielleicht sollten wir trotzdem Späher vorausschicken«, schlug Robin vor.
»Was für eine hervorragende Idee«, antwortete Dariusz sarkastisch. »Abgesehen von der Kleinigkeit, dass es der sichere Tod dieser Männer wäre, sollten dort vorne tatsächlich Saladins Truppen auf uns warten.« Er schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf. »Sollen wir uns wie ein Haufen jammernder Feiglinge benehmen, nur weil dort vorne vielleicht ein Dutzend Plünderer auf uns wartet?«
»Ein Dutzend Plünderer«, widersprach Robin, »würde es wohl kaum wagen, einem Heer wie dem unseren aufzulauern.«
Dariusz’ Augen wurden fast schwarz vor Wut, als er sich vollends zu Robin umdrehte, aber seine Stimme klang überraschend ruhig, als er antwortete: »Vorausgesetzt, sie sind sich darüber im Klaren, mit wem sie es zu tun haben, ja.«
Im allerersten Moment verstand Robin nicht, was er damit meinte - ging sein Fanatismus mittlerweile schon so weit, dass er sich einbildete, Gott hätte ihre Gegner allesamt mit Blindheit geschlagen? -, aber dann drehte sie sich in dieselbe Richtung, in die sein ausgestreckter Arm deutete.
Die Templer hatten auf der Kuppe des Hügels Halt gemacht, unweit der Ruine, die ihnen gerade als Aussichtspunkt gedient hatte, der Großteil des Heeres aber an seinem gegenseitigen Fuß; bestimmt zwei- oder dreihundert Schritte entfernt. Für jeden, der sie aus sicherer Entfernung beobachtete, musste es tatsächlich aussehen, als handele es sich lediglich um ein kleines Grüppchen versprengter Ritter, ein Dutzend Männer, das sich durch die glühende Mittagshitze schleppte und ein leichtes Opfer für jeden entschlossenen Gegner abgab. Und ganz plötzlich war Robin fast sicher, dass auch das kein Zufall war. Bruder Dariusz fürchtete einen Überfall nicht nur nicht - eher suchte er den Kampf und schien alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihn zu provozieren.
»Aber gut, Bruder Robin«, fuhr Dariusz fort, nunmehr in eindeutig spöttischem Ton und mit ganz leicht erhobener Stimme, gerade genug, um sicherzugehen, dass auch alle anderen Ritter seine Worte hörten. »Wenn Ihr so sehr einen Hinterhalt fürchtet, dann wäre es fahrlässig, sich nicht darauf vorzubereiten. Macht euch kampfbereit!« Die drei letzten Worte hatte er mit lauterer Stimme gerufen.
Während sich die Ritter, ohne zu murren, und schnell, dennoch aber mit erschöpft wirkenden, mühsamen Bewegungen erhoben und noch mühevoller in die Sättel ihrer Pferde stiegen, wandte sich Dariusz mit einer befehlenden Geste an Rother.
»Kehrt zu den anderen zurück«, befahl er. »Die Männer sollen uns in einigem Abstand folgen. Aber ich will nicht, dass man sie sieht.«
Rother eilte davon, und auch Robin wandte sich um und ging mit hängenden Schultern zu ihrem Pferd. Es schnaubte protestierend, als sie sich in den Sattel hinaufzog, wie um sich über die viel zu kurze Rast zu beschweren, und als sie den schweren Topfhelm überstülpte, hatte sie im ersten Moment das Gefühl, ersticken zu müssen. Die Hitze war grausam, und ihr eigener Atem, den sie unter dem Helm einatmete, roch so schlecht, dass ihr allein davon übel wurde.
Dariusz stieg als Letzter in den Sattel, befestigte mit einer raschen Bewegung den großen, dreieckigen Schild mit dem roten Tatzenkreuz der Templer am linken Arm und schloss die rechte Faust um seine Lanze, an deren Ende der weiß-rote Wimpel mit dem Symbol des Ordens flatterte. Ohne ein weiteres Wort sprengten sie los und verfielen fast sofort in scharfes Tempo. Robin wandte mühsam den Kopf und sah, dass eines der Pferde zurückgeblieben war. Ihr Tempo nahm noch zu, als sie die gegenüberliegende Flanke des Hügels herabsprengten und jetzt direkt auf die Staubwolke weit vor ihnen Kurs nahmen. Robin gab die ohnehin nicht sehr realistische Hoffnung auf, dass es eine vollkommen harmlose Bedeutung für die Staubwolke geben könnte.
Dafür begann sie allmählich ernsthaft an Dariusz’ Verstand zu zweifeln. Wenn der Templer tatsächlich annahm, dass dort vorne zwischen den Dünen mehr als eine Herde versprengter Schafe war, die ein bisschen Staub aufwirbelten, so musste er sich und seine Begleiter wohl als Köder ansehen, der den Feind aus dem Versteck hervorlocken und binden sollte, bis die Hauptmacht heran war. Doch was nützte ein Köder, wenn die Falle, zu der er gehörte, noch gar nicht aufgestellt war? Rother würde endlose Minuten brauchen, um das Lager des Hauptheeres zu erreichen und Dariusz’ Befehle zu überbringen, und es würde noch einmal und noch länger dauern, bevor sich die Männer in Bewegung setzten und ihnen folgten, und das noch dazu deutlich langsamer als sie selbst. Robin maßte sich nicht an, irgendetwas von Strategie oder Kriegsführung zu verstehen, - aber das, was Dariusz nun tat, hatte nichts mit einem von beidem zu tun. Es war reine Tollkühnheit; allerdings jene ganz besondere Art von Tollkühnheit, durch die Schlachten nicht gewonnen wurden, sondern im Allgemeinen in einer Katastrophe endeten und über die auch keine Heldenlieder gesungen oder Geschichten am Lagerfeuer erzählt wurden.