Als sie sich umdrehte, stand Dariusz hinter ihr. »Was für ein herzergreifender Anblick«, sagte er. Die Worte hätten hämisch klingen können und hatten es zweifellos auch gesollt, wäre sein Blick nicht so hart wie geschmiedeter Stahl gewesen. »Ich hoffe doch sehr, Ihr habt das arme Kind vorher getauft, damit seine Seele auch Einlass in Gottes Himmelreich erlangt.«
Robin schwieg. Was sollte sie auch sagen?
»In diesen Häusern liegen noch mehr Leichen, Bruder Robin«, fuhr Dariusz fort. Er wirkte verärgert, vielleicht, weil Robin nicht geantwortet hatte. »An die dreißig, wenn ich richtig gezählt habe. Ich nehme nicht an, dass Ihr sie auch alle mit Euren bloßen Händen beerdigen wollt?«
Robin schwieg beharrlich weiter, schon weil sie spürte, dass Dariusz sich darüber mehr ärgerte als über alles, was sie möglicherweise hätte antworten können.
»Ich beginne mich zu fragen, Bruder Robin«, fuhr er nach einer abermaligen Pause fort, und wieder betonte er das Wort Bruder dabei auf eine Art, die Robin einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, »wem Eure Sympathien in Wahrheit gehören. Und ob Ihr nicht vielleicht zu lange bei den Assassinen gelebt habt.«
»Weil ich ein totes Kind beerdigt habe?«, fragte Robin. »Das war nicht mehr, als ich für jedes Tier getan hätte, Bruder Dariusz. Ihr nicht?« Sie spürte selbst, wie verächtlich ihre Stimme klang, aber sie konnte in diesem Moment einfach nicht anders. Ihr war sogar klar, dass Dariusz sie ganz bewusst reizte, vielleicht um zu sehen, wie weit sie gehen würde, aber selbst das war ihr in diesem Augenblick gleich.
»Es war aber kein totes Tier«, antwortete Dariusz kalt. »Ihr verhöhnt unsere Sitten und alle christliche Tradition, indem Ihr einem Heidenkind ein christliches Begräbnis gewährt.« Er legte eine winzige Pause ein, um seinen nachfolgenden Worten die gehörige Wirkung zu verleihen. »Von den Regeln unseres Ordens ganz zu schweigen. Was hat Euch Bruder Abbé in den Jahren Eurer Ausbildung eigentlich gelehrt?«
»Jedenfalls nicht, einer unschuldigen Kinderseele den Weg in den Himmel zu verwehren«, antwortete Robin, »nur weil es im falschen Teil der Welt geboren worden ist. Ich bin sicher, dass Gott der Herr in die Seele dieses Kindes schaut und nicht danach urteilt, ob es schon alt genug war, die heiligen Sakramente zu empfangen oder getauft zu werden.«
Dariusz’ Blick verfinsterte sich noch weiter, aber zugleich glaubte sie auch etwas wie einen kurzen, bösen Triumph in seinen Augen aufflammen und sofort wieder verschwinden zu sehen. Sie waren nicht allein, wie ihr voller Schrecken zu Bewusstsein kam. Die anderen Templer, aber auch die weltlichen Ritter aus ihrem Gefolge hatten sich überall im Dorf verteilt, durchsuchten die Häuser, durchkämmten das Gebüsch und die Felsen auf den Hängen auf der Suche nach eventuell versteckten Feinden oder Überlebenden oder hatten sich einfach erschöpft irgendwo in den Schatten gehockt und versuchten, nach dem Gewaltmarsch wieder zu Atem zu kommen, aber genug Männer standen nahe genug bei ihnen, um jedes Wort gehört zu haben. Mehr als ein Gesicht hatte sich in ihre Richtung gewandt, und in mehr als einem Augenpaar las sie einen Ausdruck von Schrecken und fassungslosem Unglauben. Was sie gerade gesagt hatte, das grenzte an Ketzerei, aber erst das kurze, böse Flackern in Dariusz’ Blick hatte ihr klar gemacht, dass der Tempelritter sie dazu hatte bringen wollen, ganz genau das zu tun. Robins Mut sank. Am Ende war sie Dariusz doch in die Falle getappt, und er hatte sich nicht einmal sonderlich anstrengen müssen.
»Ihr werdet später noch Gelegenheit haben, diese Worte zu erklären«, sagte Dariusz unerwartet ruhig, zugleich aber auch laut genug, um von mindestens einem Dutzend Ohren gehört zu werden.
Robin antwortete mit einer scheinbaren Gelassenheit, die sie selbst vielleicht am meisten überraschte und die in Wahrheit wohl nichts anderes als Fatalismus war. »Ich sehe keinen Grund dazu, Bruder Dariusz«, antwortete sie. »Ganz im Gegenteiclass="underline" Ich beginne mich zu fragen, warum Ihr den braven Menschen hier ein christliches Begräbnis vorenthalten wollt.«
Im allerersten Moment wirkte Dariusz einfach nur verblüfft. Dann verdüsterte sich sein Gesicht noch weiter. »Was erdreistet Ihr Euch, Bruder Robin?«, fragte er scharf. »Diese Menschen hier sind ...«
»Christen«, unterbrach ihn Robin. »Oder habt Ihr das Kreuz auf dem Dach des Gotteshauses übersehen, Bruder?«
Einen Herzschlag lang war sie vollkommen sicher, dass Dariusz sie abermals schlagen würde. Sie sah, wie sich alle seine Muskeln spannten und er dazu ansetzte, auf sie zuzutreten. Dann aber machte er mitten in der Bewegung kehrt und drehte mit einem Ruck den Kopf in Richtung der brennenden Moschee.
»Ihr meint diesen heidnischen Götzentempel?«
Robin schüttelte den Kopf. Sie selbst war wohl am meisten erstaunt über ihren Mut, aber sie hatte nun einmal angefangen, und sie konnte jetzt nicht mehr aufhören, ohne alles noch viel schlimmer zu machen. »Die heidnischen Symbole wurden entfernt und das Kreuz der Christenheit auf seinem Dach aufgepflanzt«, sagte sie bestimmt.
»Ein Holzkreuz macht aus einem Götzentempel noch keine Kirche«, antwortete Dariusz.
»Das ist seltsam«, erwiderte Robin. »Ihr habt mich gerade gefragt, was Bruder Abbé mich gelehrt hat. Nun, er hat mich gelehrt, dass Gottes Haus überall ist, wo Menschen zu ihm beten. Sollte er sich geirrt haben?«
In Dariusz’ Augen loderte jetzt die blanke Mordlust. Robin war sich vollkommen darüber im Klaren, wie gefährlich das Spiel war, das sie spielte - und doch war es vielleicht ihre allerletzte, verzweifelte Chance, es überhaupt zu überleben. Unter all der Wut und dem heiligen Zorn auf Dariusz’ Gesicht war plötzlich noch etwas anderes; eine Unsicherheit, wie sie sie noch niemals an ihm bemerkt und auch niemals für möglich gehalten hätte, und dann ein Zorn gänzlich anderer Art, der nicht einmal mehr ihr zu gelten schien. »Es liegt mir fern, Bruder Dariusz«, fuhr sie fort, »Euch zu verbessern oder gar maßregeln zu wollen, doch ich war der Meinung, dass dieses Dorf von Christenmenschen bewohnt wird.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer Geste auf das brennende Gotteshaus. »Warum sonst hätten Saladins Truppen es niederbrennen und all seine Bewohner erschlagen sollen?«
Dariusz’ Blick wurde lauernd. Ganz offensichtlich fragte er sich, ob Robin ihn auf diese Weise nur weiter demütigen oder ihm eine goldene Brücke bauen wollte, sodass er die Situation beenden konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Schließlich antwortete er mit einem gezwungenen, abfälligen Lachen. »Ihr seid wirklich noch jung, Bruder Robin«, sagte er verächtlich. »Ich frage mich, ob Ihr nicht vielleicht zu jung seid, um dieses Gewand zu tragen.« Er schüttelte den Kopf. »Glaubt Ihr wirklich, diese Menschen hier hätten ihrem heidnischen Glauben abgeschworen und sich Gott zugewandt? Denkt Ihr tatsächlich, sie hätten von heute auf morgen diesen Götzentempel in ein Gotteshaus verwandelt und ihre Herzen dem wahren Herrn der Welt geöffnet?«
»Ihr nicht?«, fragte Robin.
»Ich möchte es glauben«, antwortete Dariusz. »Gott weiß, dass ich jede Nacht darum bete, er möge den Geist dieser armen Menschen erhellen und sie dem wirklichen Glauben zuführen.«
Plötzlich wurde seine Stimme sanfter. »Möglicherweise habe ich Euch Unrecht getan, Bruder Robin. Wenn es so ist, dann bitte ich Euch um Vergebung. Manchmal vergesse ich, wie jung Ihr noch seid und dass auch ich einmal genauso jung war und genauso gedacht habe.« Auch er deutete auf die brennende Moschee.