8. KAPITEL
Die Chance, auf die sie gewartet hatte, kam eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang. Sie hatten trotz allem ein scharfes Tempo vorgelegt und einen deutlich größeren Teil der Strecke nach Safet zurückgelegt, als Robin auch nur zu hoffen gewagt hätte - oder zu fürchten, je nachdem. Rother ritt mittlerweile wieder fast direkt neben ihr, und sie hatten seit dem verunglückten Beginn ihres Gespräches am Morgen keine drei Sätze mehr miteinander gewechselt. Robin behielt den jungen Tempelritter dennoch aufmerksam im Auge, und so war ihr nicht entgangen, dass er sich schon seit einer geraumen Weile immer unbehaglicher im Sattel hin und her bewegte. Schließlich ließ er sein Pferd anhalten und deutete mit einer Kopfbewegung nach rechts. Links und hinter ihnen erstreckte sich das Land flach und nahezu vollkommen eben bis zum Horizont, rechterhand jedoch erhoben sich gleichförmige, gelbbraune Sanddünen, die gute fünf oder auch sechs Meter hoch sein mussten. Dahinter erhoben sich die Kämme weiterer, höherer Dünen, und dahinter wiederum höhere, eine zu Sand erstarrte Brandung, die vom Landesinneren kommend gegen die Ebene anrannte und sie vielleicht in gar nicht allzu ferner Zukunft verschlingen würde.
»Ich fürchte, ich muss kurz hinter dieser Düne verschwinden«, begann er unbehaglich, »um ...«
»Dann hast du heute Morgen wohl mehr getrunken, als du ausschwitzen konntest«, bemerkte Robin. »Ich verstehe. Geh ruhig. Ich halte so lange dein Pferd.« Sie streckte auffordernd die Hand aus und schickte gleichzeitig ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass Rother ihr ihre Erleichterung nicht zu deutlich ansehen mochte. Wenn sie die verbliebene Entfernung richtig überschlagen hatte, konnten es allerhöchstens noch zwei oder drei Stunden bis Safet sein, und sie hatte sich schon zu fragen begonnen, ob der junge Ritter eigentlich nie ein menschliches Bedürfnis verspürte.
»Wenn du zurück bist, machen wir es anders herum«, fügte sie hinzu, als Rother aus irgendeinem Grund zögerte. Offensichtlich war sie nicht die Einzige gewesen, der Dariusz’ sonderbare Worte zu denken gegeben hatten.
Rother zögerte auch jetzt noch, rang sich aber schließlich zu einem - widerwilligen - Nicken durch, kletterte steifbeinig aus dem Sattel und reichte Robin die Zügel. Sie wich seinem Blick aus, während sie sie entgegennahm, und obwohl sie innerlich jubilierte, meldete sich zugleich ihr schlechtes Gewissen heftig zu Wort. Möglicherweise würde Dariusz Rother hart bestrafen, wenn er zurückkam und ihm beichten musste, dass ihm Robin abhanden gekommen war. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sobald ihr Vorsprung groß genug war, würde sie sein Pferd freilassen und darauf hoffen, dass das Tier mit ein bisschen Glück zu seinem Herrn zurückfand. Mehr konnte sie nicht für ihn tun.
Rother versuchte die Düne hinaufzueilen, hatte dabei aber unerwartet große Schwierigkeiten, denn der lockere Sand gab immer wieder unter seinen Füßen nach, sodass er ein paar Mal fast um die gleiche Distanz zurückrutschte, die er gerade mühsam erklommen hatte, und einmal sogar auf Hände und Knie hinabfiel. Oben angekommen, richtete er sich mühsam auf und warf ihr ein verlegenes Grinsen zu, bevor er auf der anderen Seite der Düne verschwand.
Robin musste sich beherrschen, um nicht auf der Stelle loszugaloppieren. Sie hatte hinlänglich Zeit. Rother würde einige Augenblicke brauchen, um auf der anderen Seite wieder hinabzuklettern, und wenn sie Glück hatte, dann drückte ihn ja nicht nur das Wasser, das er am Morgen getrunken hatte - die Ordensbrüder waren untereinander nicht so schamhaft, dass er das nicht einfach in ihrer Gegenwart erledigt hätte, wodurch sie schon mehr als einmal in eine peinliche Situation geraten war. Sie hatte Zeit genug, das Pferd lautlos umzudrehen und sich ebenso lautlos ein paar Dutzend Schritte zu entfernen, statt einfach loszusprengen und ihn durch den Hufschlag frühzeitig zu alarmieren.
Im allerersten Moment weigerte sich das Pferd, ihr zu gehorchen, und warf nicht nur den Kopf zurück, sondern versuchte sogar nach ihr zu beißen, dann aber beruhigte es sich schlagartig und ließ sich gehorsam in einem engen Halbkreis herumführen. Robin atmete innerlich auf. Es hätte ihr zutiefst widerstrebt, dem Pferd die Kehle durchzuschneiden, aber sie hätte es tun müssen, denn auf ein Wettrennen mit Rother konnte sie sich auf keinen Fall einlassen - und schon gar nicht auf einen Kampf. Sie war sehr erleichtert, das Tier nicht töten zu müssen, dessen einziges Verbrechen darin bestand, seinem Herrn treu ergeben zu sein.
Bei diesem Gedanken musste sie an Guy denken, und ein so intensives Gefühl von Schuld ergriff von ihr Besitz, dass es fast körperlich wehtat. Sie schüttelte die Erinnerung mit einiger Mühe ab und ergriff den Zügel fester, und auf dem Dünenkamm über ihr rief Rother: »Robin!«
Robin hätte vor Enttäuschung am liebsten laut aufgeschrien. Jetzt würde sie doch mit Rother kämpfen müssen. Sie wusste, dass sie ihn ohne Mühe besiegen konnte, aber sie wollte ihn nicht verletzen. Ihn von allen Männern aus Dariusz’ Begleitung am allerwenigsten. Dennoch ließ sie den Zügel los und senkte die Hand auf den Schwertgriff, während sie sich langsam im Sattel umdrehte.
Rother sah jedoch noch nicht einmal in ihre Richtung, sondern hatte sich halb in die Hocke sinken lassen und deutete mit ausgestrecktem Arm nach Westen, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Mehr überrascht als erleichtert folgte Robins Blick der Geste. Sie nahm die Hand nicht vom Schwert.
Es vergingen noch einige Augenblicke, aber dann sah sie es auch: Über der Ebene war eine Anzahl winziger Punkte erschienen, die sich in der hitzeflimmernden Luft in beständiger zitternder Bewegung zu befinden schienen. Es war schwer, ihre genaue Anzahl zu schätzen; es konnte ein halbes Dutzend sein, aber auch doppelt so viele. Wäre Rother nicht auf die Düne hinaufgestiegen, hätte er sie wohl kaum bemerkt.
»Ich sehe sie auch«, sagte sie. »Kannst du erkennen, wer es ist?«
Rother beschattete die Augen mit der Hand und konzentrierte sich, schüttelte aber dann nur den Kopf und begann wortlos die Düne wieder herunterzulaufen. Er sah besorgt aus, und Robin erging es nicht viel anders. Auch wenn die Gebiete von hier bis Akkon unter christlicher Verwaltung und der Herrschaft der verschiedenen christlichen Orden standen, so befanden sie sich doch de facto in Feindesland, wie der Vorfall von gestern nur zu deutlich bewiesen hatte. Fremde waren hier mit äußerster Vorsicht zu genießen.
»Wir reiten besser weiter«, sagte Rother. Er hatte sie mittlerweile schon fast erreicht, verhielt einen Moment im Schritt und runzelte fragend die Stirn, als er sah, in welche Richtung sie die Pferde gedreht hatte, ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern stieg mit einer raschen Bewegung in den Sattel und deutete nach Osten. Ohne ein weiteres Wort sprengten sie los.
Rother legte von Anfang an ein scharfes Tempo vor, was seine Behauptung, er wisse nicht, um wen es sich bei ihren vermeintlichen Verfolgern handelte, in einem anderen Licht erscheinen ließ. Sie ritten zu schnell, als dass sie eine entsprechende Frage stellen konnte, aber Robin machte sich ihre Gedanken; und vor allem auch über die Frage, wieso Rother eigentlich so schnell zurück gewesen war. Die Antwort, auf die sie kam, gefiel ihr nicht.
Sie ritten eine geraume Weile weiter geradeaus in östlicher Richtung. Ihre Pferde griffen kräftig aus, sodass sie zügig von der Stelle kamen und die Schemen ihrer Verfolger schon nach kurzer Zeit hinter ihnen zurückfielen, aber Robin machte sich nichts vor: Die Staubwolke, die sie hinter sich herzogen, musste über viele Meilen hinweg zu sehen sein, und ihre Pferde würden das Tempo nicht mehr lange durchhalten. Es waren kräftige, zähe Tiere, aber die zurückliegenden Tage waren auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. Von den Lefzen ihrer Stute tropfte bereits flockiger weißer Schaum, und ihr Atem ging scharf und rasselnd, und auch Rothers Tier befand sich in keinem wesentlich besseren Zustand. Auf diese Weise würden sie ihre Verfolger ganz bestimmt nicht abschütteln können.