»Also doch«, murmelte er.
»Nein«, antwortete Robin. »Ich glaube nicht, dass du es wirklich verstehst. Aber ich bin froh, dass du dich richtig entschieden hast. Bitte mach jetzt keinen Fehler.«
Rother schwieg, aber der Blick, mit dem er sie nun maß, traf Robin härter als alles, was er hätte sagen können. In seinen Augen waren weder Zorn noch Verachtung oder gar Hass - das alles kannte sie zur Genüge, und sie hatte in ihrem kurzen Leben so viel davon erfahren, dass es sie nicht mehr wirklich zu verletzen vermochte. Was sie dagegen in seinen Augen las und was sich wie die Klinge eines dünnen, aber glühenden Dolches in ihr Herz bohrte, das waren Enttäuschung und Trauer.
Robin brach den Gedanken mit einiger Anstrengung ab und wandte sich wieder dem Assassinen zu. Der Krieger ging im gleichen Moment weiter, in dem sich ihre Blicke trafen, und blieb zwei Schritte unter dem Dünenkamm stehen; ganz gewiss nicht durch Zufall gerade so, dass sich sein Gesicht eine Winzigkeit unter dem ihren befand und sie auf ihn hinabsehen konnte. Zu ihrer Erleichterung sagte er kein Wort, sondern bekundete ihr seine Ehrerbietung nur durch ein angedeutetes Nicken. Aber selbst das war schon fast mehr, als ihr in Rothers Gegenwart recht war.
Sie erwiderte seinen stummen Gruß auf die gleiche Art und wandte sich noch einmal um. Zwei der drei Assassinen auf dem anderen Dünenkamm hatten ihre Bögen sinken lassen, und auch der dritte hatte seine Sehne entspannt, und der Pfeil deutete nur noch nachlässig in Rothers Richtung, wovon sich Robin aber keine Sekunde lang täuschen ließ. Sie wusste, wie perfekt diese Männer ihre Waffen beherrschten. Das waren keine dahergelaufenen Plünderer wie die Männer, mit denen sie es gestern zu tun gehabt hatten, und selbst diese hatten schon hervorragend mit Pfeil und Bogen umzugehen verstanden. Die Assassinen aber waren nicht nur in der Lage, auf eine größere Entfernung ein Pferd zu treffen, sondern ihm auch mit einem gezielten Schuss ein Auge auszuschießen, wenn es sein musste. Wenn Rother auch nur die winzigste falsche Bewegung machte, würde er nicht einmal mehr lange genug leben, um das Geräusch der Bogensehne zu hören. Sie betete, dass er sich ruhig verhielt, doch sie sah ihn ganz bewusst nicht an, sondern drehte sich mit einer abrupten Bewegung wieder um und wandte sich an den Assassinen.
»Schickt dich Salim?«, fragte sie.
Der Mann nickte. Er schwieg, beinahe als hätte er ihre Gedanken gelesen, und Robin begann vorsichtige Hoffnung zu schöpfen. Entweder Salim hatte ihn ausgezeichnet instruiert, oder es war in diesem Moment tatsächlich so leicht, in ihrem Gesicht zu lesen. Das Ergebnis blieb sich gleich. Vielleicht hatte Rother doch noch eine Chance, am Leben zu bleiben.
»Welche Befehle hat er euch gegeben?«, fragte sie.
Der Mann zögerte einen winzigen Moment, nicht weil er die Antwort auf ihre Frage nicht kannte, sondern viel mehr, weil er sich zu wundern schien, warum sie sie überhaupt stellte.
Robin versuchte sein Gesicht zu erkennen, aber alles, was davon sichtbar war, war ein schmaler Streifen über Nasenwurzel und Augen. Dennoch trafen sich für einen Moment ihre Blicke, und Robin las die stumme Frage in den Augen des Assassinen und beantwortete sie auf die gleiche, lautlose Art. Sie fragte sich, ob Rother das stumme Zwiegespräch bemerkte.
»Wir sollen Euch zu ihm bringen«, antwortete der Krieger.
Ein Teil von ihr jubilierte. Es war vorbei. Der Albtraum hatte ein Ende. Salims Männer waren gekommen, um sie zu holen, und alles war - endlich! - vorbei. Sie würde zurückkehren auf die Burg seines Vaters, zurück in ihre stillen, kühlen Gemächer, in denen es stets nach Rosen und kostbaren Essenzen roch, zurück in seine Umarmung und den Schutz, den seine bloße Nähe verhieß. Alles war vorbei. Bruder Dariusz, die Hitze, der Krieg und die Entbehrungen, das alles gehörte von diesem Moment an der Vergangenheit an.
Ebenso wie Rother.
»Wo ist er jetzt?«, fragte sie.
Sie las Verwirrung in den Augen des Mannes, aber auch eine Spur von Ärger. Dann erkannte sie ihn. Sie erinnerte sich nicht an seinen Namen, aber es war ein Mann aus Salims persönlicher Leibwache - und somit auch ihrer -, und Robin spürte ihr schlechtes Gewissen; immerhin lebte sie nicht nur seit annähernd zwei Jahren mit diesen Männern zusammen, sondern hatte es bisher auch als ganz selbstverständlich hingenommen, dass jeder einzelne dieser Männer, ohne zu zögern, sein Leben hingegeben hätte, um sie zu beschützen.
»Salim erwartet Euch in seinem Zelt vor Safet«, antwortete der Assassine endlich. »Wir sollen Euch zu ihm bringen.«
»Nach Safet?«, wiederholte Robin überrascht. »Salim ist in ...?«
»Safet«, bestätigte der Assassine, als sie nicht weitersprach, sondern ihn nur überrascht ansah. »Er erwartet Euch in seinem Zelt.«
Zwei, drei, schließlich zehn endlose, schwere Atemzüge lang blickte der Assassine sie ebenso durchdringend wie erwartungsvoll an, während Robins Gedanken sich wie durch zähen Teer bewegten. Was er gesagt hatte, war nicht das, was seine Worte bedeuteten. Sie hätte nicht einmal in die dunklen Augen über dem schwarzen Tuch blicken müssen, um das zu begreifen.
»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Dann reitet voraus und sagt meinem Herrn, dass ich zu ihm kommen werde, sobald ich meinen Auftrag erfüllt habe.«
Der Assassine zog - leicht verstört, wie es ihr vorkam - die Augenbrauen zusammen. Ihm war nicht entgangen, auf welch sonderbare Weise sie die Worte meinem Herrn betont hatte, und Robin konnte nur hoffen, dass er begriff, was sie ihm damit hatte sagen wollen. Einen winzigen Augenblick lang blickte er fragend in Rothers Richtung, und Robin schüttelte kaum merklich den Kopf. Etwas im Ausdruck der dunklen Augen änderte sich. Sie hätte nicht genau sagen können, was es war, aber sie hatte das Gefühl, dass sie für diesen Moment (der Schwäche?) noch würde bezahlen müssen.
»Der Auftrag unseres Herrn lautete ...«, begann der Krieger dann auch prompt.
»Ich weiß, wie sein Auftrag lautet«, unterbrach ihn Robin kühl. »Doch im Moment diene ich einem höheren Herrn. Ich bin sicher, Salim wird das verstehen. Also reitet weiter und richtet ihm aus, dass er sich keine Sorgen um mich zu machen braucht. Ich werde mich bei ihm melden, sobald es mir möglich ist.«
Vielleicht war dies der gefährlichste Moment überhaupt. Robin versuchte vergeblich, in den Augen ihres Gegenübers zu lesen. Der Mann war zutiefst verwirrt, aber das war es nicht allein. Zweifellos hatte Salim ihm und den anderen ganz klare Befehle erteilt, und ebenso zweifellos widersprach das, was sie gerade gesagt hatte, diesen Befehlen. Robin wagte nicht vorherzusagen, was er tun würde. Diese Situation war neu, sowohl für sie als auch für ihn. Trotz all der Zeit, die sie nun mit diesen Männern verbracht hatte, trotz all der - vermeintlichen - Vertrautheit, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, hatte es niemals einen Augenblick wie diesen gegeben, in dem sie sich zwischen dem Gehorsam ihrem Herrn gegenüber und dem Respekt vor seiner Gemahlin entscheiden mussten.
Robin glaubte den inneren Kampf zu spüren, den der Assassine ausfocht, und sie fragte sich ganz flüchtig, ob sie wirklich ermessen konnte, was sie von ihm verlangte. Diese Männer hatten Salim und seinem Vater Treue und Gehorsam bis in den Tod geschworen, doch sie war Salims Frau, und somit wog ihr Wort fast ebenso schwer wie das seine. Wie sich seine Entscheidung - ganz gleich, wie sie ausfallen mochte - für ihn auswirken musste, das vermochte sie nicht einmal zu erahnen, aber vielleicht war sie ja dramatischer, als sie bisher angenommen hatte. Es war so viel, was sie bisher als ganz selbstverständlich hingenommen hatte, obwohl es sich in Wahrheit vielleicht um die Entscheidung über Leben und Tod oder doch zumindest das Schicksal eines ganzen Menschenlebens handelte.
»Und richtet Salim Folgendes aus«, fügte sie hinzu, wobei sie versuchte, gerade Verständnis heischend genug zu klingen, ohne den Unterschied im Rang zwischen ihnen vollkommen zu verwischen. »Ich will weder seinem Befehl trotzen noch das Wort meines neuen Herrn über das seine stellen. Doch es wäre unklug, meinen Auftrag nicht zu Ende zu führen. Seine Erfüllung ist auch in Salims Sinne und in dem seines Vaters.«