»Ach? Habe ich das?«
»Die Assassinen hätten mich getötet, wenn du mit ihnen gegangen wärst«, vermutete Rother.
Robin schwieg. Sie hätte ihm gerne widersprochen, aber sie musste sich eingestehen, dass Rother die Lage durchaus richtig eingeschätzt hatte: Salims Männer pflegten keine Spuren zu hinterlassen; weder im Sand noch solche auf zwei Beinen. Sie hob nur die Schultern. Ihr Blick tastete über seine Gestalt und blieb für einen winzigen Moment am Griff des Dolches hängen, der aus seinem Gürtel ragte. Rother fuhr leicht zusammen und sah sie - nun eindeutig schuldbewusst - an, dann fragte er: »Warum hast du es nicht getan?«
»Was?«
»Sie begleitet«, antwortete Rother. Robin suchte einen Moment nach Worten, doch Rother hob die Hand, machte eine erklärende Geste in die Richtung, in der die Reiter verschwunden waren, und fuhr fort: »Sie hätten dich mitgenommen. Du wärst frei.«
»Frei?«, wiederholte Robin überrascht. »Was bringt dich auf die Idee, dass ich zu ihnen zurück will?«
»Nichts«, sagte Rother ernst. »Ich weiß nicht, ob du dich wieder den Assassinen anschließen willst. Aber ich weiß, dass du nicht bei uns sein willst.«
»Du ...«
»Mach mir nichts vor«, unterbrach sie Rother kopfschüttelnd.
»Und vor allem dir selbst nicht. Ich habe dich beobachtet, Robin. Ich weiß, du gibst dir Mühe, es dir nicht anmerken zu lassen. Die anderen mögen darauf hereingefallen sein, aber ich sehe dir an, dass du unglücklich bist.« Er schüttelte den Kopf. »Warum tust du dir das an, Bruder Robin?«
»Was?«, fragte Robin.
»Du gehörst nicht zu uns«, sagte Rother geradeheraus.
»Ja, der Meinung ist Bruder Dariusz auch«, sagte Robin mit einem gequälten Grinsen, aber Rother blieb ernst.
»Das meine ich nicht«, sagte er. »Du bist nicht glücklich bei uns. Vielleicht fällt es den anderen nicht auf, aber ich sehe dir an, wie du leidest.«
»Du bist ein guter Beobachter, wie?«, fragte Robin. Zumindest, was mich angeht, fügte sie in Gedanken hinzu. Rother schwieg, und Robins Blick suchte erneut nach dem Dolch in seinem Gürtel. »Hat Dariusz dir aufgetragen ...?«
»Darauf zu achten, dass du in Safet ankommst - oder nirgendwo?« Rother nickte. »Ja.«
Robin war nicht überrascht. »Und warum hast du seinen Befehl nicht befolgt?«
Rother hob nur die Schultern. Er schwieg.
»Dann sind wir ja quitt«, sagte Robin achselzuckend. »Was mich angeht, müssen Dariusz und die anderen nichts von diesem Treffen erfahren.«
»Ich verstehe«, sagte Rother. »Ich soll nicht nur seinen Befehl missachten, sondern ihn auch noch belügen.«
»Etwas nicht zu sagen ist nicht unbedingt eine Lüge«, stellte Robin richtig, aber sie hatte die Worte noch nicht einmal ganz ausgesprochen, als ihr auch schon klar wurde, dass auch sie schon wieder falsch gewesen waren.
»Eine Lüge wegzudiskutieren macht sie noch lange nicht zur Wahrheit«, widersprach Rother.
Er klang traurig; irgendwie verletzt, fand Robin. Sie verzichtete darauf, irgendetwas von alledem zu sagen, was sie zu diesem Thema - vor allem im Zusammenhang mit Bruder Dariusz - hätte sagen können, sondern sah Rother nur noch einen Moment lang schweigend an und balancierte dann mit vorsichtig ausgebreiteten Armen die Düne hinunter, um sich auf die Suche nach ihren Pferden zu begeben.
9. KAPITEL
Der Ritt nach Safet dauerte noch gute drei Stunden. Rother sprach in dieser Zeit kein einziges Wort mehr mit ihr, und auch der Abstand, in dem er sein Pferd neben ihrer Stute hertraben ließ, war deutlich größer als vor ihrem Zusammentreffen mit den Assassinen. Robin war nicht ganz sicher, ob sie das als Zeichen seiner Verletztheit oder des genauen Gegenteils deuten sollte - spätestens Rothers verräterischer Griff nach dem Dolch hatte ihr klar gemacht, dass Dariusz dem jungen Ritter ganz eindeutige Befehle erteilt hatte, was sie anging; aber sie hatte ihre Chance gehabt, genau das zu tun, was Dariusz offenbar vorausgesehen hatte, und sie hatte darauf verzichtet, sie zu ergreifen. Warum also sollte er sie weiter bewachen?
Robin spürte dennoch, dass das nicht die alleinige Erklärung dafür war, dass Rother jetzt nicht nur einen sehr viel größeren Abstand zu ihr einhielt, sondern auch ihrem Blick auswich. Die wenigen Male, die sich ihre Blicke zufällig begegneten, las sie eine sonderbare Mischung aus Verachtung und einem Gefühl tiefer Enttäuschung in seinen Augen, die sie sich zwar nicht erklären konnte, die aber schmerzte. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass Rother erstens ein vollkommen Fremder für sie war und er zweitens in wenigen Tagen ebenso rasch und spurlos wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, wie er darin aufgetaucht war, und es ihr gleich sein konnte, was Rother über sie dachte - aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Der junge Tempelritter bedeutete ihr mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Unter all den Männern, mit denen sie zusammen gewesen war, seit sie das kleine Fischerdorf und ihr altes Leben hinter sich gelassen hatte, war Rother vielleicht der, auf den der Begriff Freund noch am ehesten zutraf; und Freundschaft war ein zu kostbares Gut, als dass Robin bereit war, es so einfach aufzugeben. Rother war ganz eindeutig nicht in der Stimmung, mit ihr zu reden. Aber sie nahm sich fest vor, es bei der ersten Gelegenheit nachzuholen, die sich ihr bot.
Nun aber - endlich - kam Safet in Sicht. Die Ordensfestung lag auf einem flachen Hügel, der das ebene Land ringsum trotzdem weit überragte und der darauf errichteten Festung eine hervorragende strategische Position verlieh. Auch die Festung selbst, ein dem Hügel angepasstes, lang gezogenes Rechteck mit soliden Wehrtürmen, auf denen die Banner des Ordens wehten, war nicht besonders groß, verglichen mit vielen anderen Burgen, in denen sie gewesen war, doch was für den Hügel galt, das traf auf den aus gelblich-braunem Sandstein errichteten Bau noch viel deutlicher zu: In einem Land, in dem schon ein Hügel zum Berg wurde, wirkte auch ein kleines Kastell wie eine mächtige Trutzburg.
Genau genommen war Safet weder das eine noch das andere, sondern schien irgendwo dazwischen angesiedelt zu sein; so, wie sich Robin auch nicht wirklich entscheiden konnte, ob die dazugehörige Ansammlung von Gebäuden nun ein besonders großes Dorf oder eine zu klein geratene Stadt darstellte. Die Siedlung schmiegte sich unterhalb der eigentlichen Burg an den Berg; ein wahres Sammelsurium der unterschiedlichsten Baustile und Architekturen, als hätte jeder einzelne der zahllosen Herren, die Safet in den zurückliegenden Jahrhunderten gehabt hatte, fast schon eifersüchtig versucht, der Stadt das Antlitz seiner eigenen Kultur und Weltanschauung zu verleihen. Etliche der Gebäude waren so alt, dass der Verfall schon sichtlich an ihnen nagte und sie - zumindest aus der Entfernung betrachtet - kaum noch mehr als Ruinen zu sein schienen, aber es gab auch größere, fast schon prachtvolle Gebäude und auf halber Strecke zur Festung hin einen Komplex, der für sich allein genommen schon beinahe so etwas wie eine kleine Burg darstellte.
Die meisten Gebäude waren auf typisch maurische Art errichtet, aber es gab auch einige, die ganz eindeutig abendländischen Schnittes waren, und zwei oder drei, die Robin gar nicht einordnen konnte. Genau aus dem Zentrum der Stadt stach die spitze Nadel eines Minaretts in den Himmel, und der momentane Stadthalter der Burg war zumindest umsichtig genug gewesen, kein christliches Kreuz auf ihrem golden schimmernden Kuppeldach zu errichten, sondern es bei den Fahnen des Templerordens zu belassen, die trotzig über den Zinnen und Wehrtürmen der Burg wehten. Robin fragte sich mit einem Gefühl leiser Sorge, wie lange das noch so bleiben würde. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Bruder Dariusz ein solches Symbol heidnischer Götzenverehrung auch nur einen Tag in einer Stadt dulden würde, über die ein christlicher Herrscher gebot.