Wie oft hatten Bruder Dariusz und Rother den Namen des Komturs von Safet genannt und wie oft hatte sie ihn gehört und - obwohl er ungewöhnlich genug war - nicht verstanden?
»Bruder ... Horace ...?«, murmelte sie fassungslos. Ihr Herz begann zu klopfen.
»Das ist richtig«, antwortete Horace. Sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, und selbst in seinen Augen zeigte sich allenfalls eine Spur vager Neugier, während er den Kopf auf die Seite legte und sie mit einem raschen Blick von Kopf bis Fuß taxierte. Robin suchte vergeblich nach irgendeiner Spur von Erkennen in seinem Blick. »Und Ihr seid ...?«
»Ich bin Bruder Rother«, antwortete Rother, bevor Robin Gelegenheit fand, selbst etwas zu sagen. Mit einer entsprechenden Handbewegung (und einem raschen, deutlich verwirrten Blick in Robins Richtung) fügte er hinzu: »Das ist Bruder Robin.«
Horace blickte Robin noch einen halben Herzschlag lang mit unveränderter Miene an, bevor er sich mit deutlicher Anstrengung von ihrem Anblick losriss und zu Rother umdrehte. Ein fast nur angedeutetes Stirnrunzeln erschien auf seinem Gesicht, und auch der Tonfall seiner Stimme schien sich um eine Winzigkeit zu ändern und klang nun ganz leicht missbilligend. »Und was führt Euch zu mir, Bruder?«
Rother wirkte im allerersten Moment fast hilflos. Ganz offensichtlich hatte er eine andere Begrüßung erwartet, und ebenso offensichtlich war er nicht nur verstört über Horaces Reaktion, sondern auch ein wenig verärgert. Er sah noch einmal rasch zu Robin hin (war das Vorwurf, was sie plötzlich in seinen Augen las?), bevor er sich wieder an den Komtur wandte und mit einer tiefen, dennoch aber nicht übermäßig respektvoll wirkenden Verbeugung fortfuhr. »Verzeiht, dass wir Euch ohne Anmeldung stören. Ich weiß, dass Ihr ein viel beschäftigter Mann seid, und im Augenblick wohl noch mehr als sonst. Aber ich habe eine persönliche Botschaft von Bruder Dariusz für Euch.«
»Dariusz?« In Horaces Augen leuchtete nun doch ein schwaches Interesse auf. Er beugte sich leicht in seinem Stuhl nach vorn und legte den Kopf auf die andere Seite. Wieder streifte sein Blick flüchtig Robins Gesicht, und diesmal war sie vollkommen sicher, nicht die mindeste Spur von Wiedererkennen oder irgendeinem anderen Gefühl darin zu lesen. Konnte es sein, dass Horace sie nicht erkannte? Das konnte sich Robin nur schwer vorstellen. Sie selbst hatte im allerersten Moment alle Mühe gehabt, sich ihre Überraschung - und ihre Wiedersehensfreude! - nicht zu deutlich anmerken zu lassen, und vermutlich hätte Rother beides dennoch bemerkt, hätte er ihr in diesem Moment direkt ins Gesicht geblickt. Sicher, es war gute zwei Jahre her, dass Horace und sie sich das letzte Mal gegenübergestanden hatten. Seit dem Gefecht auf der Sankt Christophorus hatte Robin ihn nicht mehr gesehen; so wenig wie irgendeinen anderen der Ritter, die zusammen mit ihr in Genua an Bord des Schiffes gegangen waren. Er war deutlich älter geworden; viel mehr als die zwei Jahre, die seither ins Land gegangen waren. Sein Gesicht war schmaler geworden und wirkte nun wie das eines Raubvogels. Er hatte graue Schläfen bekommen, und viel von der Wärme und Herzlichkeit, die Robin früher in seinen Augen gelesen hatte, war nun etwas anderem gewichen, von dem sie gar nicht so genau wissen wollte, was es war.
Dennoch zweifelte sie nicht einen Moment lang daran, dass er sie ebenso erkannt hatte wie sie umgekehrt ihn. Was ging hier vor?
»Bruder Dariusz, ja«, bestätigte Rother, der seine gewohnte Ruhe und Selbstsicherheit nun rasch wiederfand. »Er befindet sich zusammen mit einem kleinen Heer weltlicher Ritter und freiwilliger Kämpfer auf dem Weg nach Safet. Sie sind noch einen halben Tagesritt entfernt.«
Horace hob die Hand und unterbrach ihn. »Lasst mich raten, Rother. Er hat Euch vorausgeschickt, um für ihn und Eure Brüder frische Kleider zu holen und alles für ihr Eintreffen hier vorzubereiten.«
Rother wirkte ein ganz kleines bisschen verwirrt. »Ja«, bestätigte er, »aber hier ...«
»Wenn das so ist, muss ich Euch enttäuschen«, fiel ihm Horace erneut ins Wort. Er lächelte dünn, schüttelte zugleich aber auch den Kopf. »Ich fürchte, uns stehen weder die Mittel noch das Personal zur Verfügung, Bruder Dariusz den Empfang zu bereiten, der ihm und seinen Begleitern zweifellos gebührt. Dariusz wird das verstehen, wenn er erst einmal hier eingetroffen ist.«
Rother wand sich wie ein getretener Wurm. »Verzeiht, Bruder Horace«, sagte er fast gequält. »Aber das ist es nicht allein.«
»Nein?« Horaces linke Augenbraue rutschte ein Stück weit an seiner Stirn nach oben. Sein Gesicht blieb weiterhin vollkommen unbewegt. »Sondern?«
»Ich fürchte, ich muss Euch um ein Dutzend Pferde für Dariusz und den Rest unserer Brüder bitten«, antwortete Rother voll unübersehbaren Unbehagens. Sein Blick wanderte unstet über den Boden, den Tisch, selbst die Armlehnen des Stuhles, auf dem Horace saß, hütete sich aber, dem Blick des hochrangigen Tempelritters zu begegnen. »Bruder Robins Stute und mein Hengst waren die einzigen Pferde, über die wir noch verfügten.«
»Was ist geschehen?«, erwiderte Horace, zwar noch immer mit ungerührtem Gesicht, aber nun in hörbar interessierterem, vielleicht alarmiertem Ton.
»Ein Hinterhalt«, antwortete Rother. Robin hatte Mühe, ihn nicht überrascht anzusehen, und Horace zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen.
»Ein Hinterhalt?«, wiederholte er. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein Mann wie Dariusz in einen Hinterhalt reitet. Berichtet, Bruder.«
Rother gehorchte. Mit wenigen Worten erzählte er, was sie in dem niedergebrannten Dorf vorgefunden hatten und was danach geschehen war. Zu Robins nicht geringer Überraschung hielt er sich dabei Wort für Wort an die Wahrheit, auch wenn Dariusz bei dieser Schilderung vielleicht nicht so gut wegkam, wie er es sicherlich gerne gehabt hätte. Sie hatte fest damit gerechnet, dass Rother das Verhalten seines Ordensbruders in einem besseren Licht schildern würde, aber er blieb bei den Tatsachen, und er ließ auch seine (und Robins) persönliche Einschätzung am Schluss nicht aus, dass sie es einzig purem Glück und dem verfrühten Eintreffen der Nachhut zu verdanken hatten, dass die improvisierte Schlacht nicht einen noch viel schlimmeren, blutigen Ausgang für die Tempelritter genommen hatte. Horace hörte schweigend zu, aber sein Mienenspiel und sein Blick, der sich mit fast jedem Wort, das ihm zu Gehör kam, weiter verfinsterte, ließ keinen Zweifel daran, was er von Dariusz’ wenig weitsichtiger Strategie hielt. Als Rother zu Ende gekommen war, schwieg er eine geraume Weile, und für dieselbe Zeit schien sein Blick geradewegs durch den jungen Tempelritter hindurchzugehen und sich auf einen Punkt irgendwo im Nichts zu richten. Schließlich seufzte er tief, räusperte sich und ließ sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken. Das schwere Möbelstück aus uraltem Holz ächzte hörbar.
»Ja, das klingt ganz nach meinem alten Freund Dariusz«, sagte er. »Ich danke Euch, dass Ihr Euch bei der Schilderung der Ereignisse an die Wahrheit gehalten habt, Bruder Rother - auch, wenn Dariusz Euch zweifellos aufgetragen hat, es damit in diesem einen Fall vielleicht einmal nicht ganz so genau zu nehmen.«
Er hob die Hand, als Rother widersprechen wollte. »Nichts anderes als das, was Ihr mir gerade berichtet habt, hätte ich geglaubt, Rother. Und nun verlangt Dariusz selbstverständlich nach frischen Pferden und sauberen Mänteln für seine Männer. Ein Mann wie er kann schwerlich auf einem Maultier in die Burg einreiten, und noch dazu in einem zerrissenen Mantel.« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Obwohl ich versucht bin, ihn genau das tun zu lassen. Möglich, dass er danach ein wenig über die Bedeutung des Wortes Hochmut nachdenkt.« Er seufzte erneut. »Aber keine Sorge, Rother. Natürlich werde ich es nicht tun. Und ich werde ihm auch nichts von unserem Gespräch berichten, sondern mir seine Version der Geschehnisse anhören. Macht Euch keine Sorgen.«