»Das ist sehr freundlich von Euch, Bruder«, begann Rother, »aber ich ...«
Horace unterbrach ihn abermals, indem er mit einer unerwartet raschen Bewegung aufstand. »Nun gut«, seufzte er. »Dann geht hinunter zum Stallmeister, Rother. Sagt ihm, dass er Euch so viele Pferde geben soll, wie Ihr braucht. An frischer Kleidung herrscht im Moment leider ein gewisser Mangel. Dafür gibt es umso mehr blutige Mäntel, die auf einen neuen Besitzer warten.«
Sein Blick wurde hart, und auch wenn diese Härte ganz gewiss nicht Rother galt, schien der junge Ritter darunter doch sichtlich zusammenzuschrumpfen. »Bruder Dariusz wird die Schmach überstehen, so in die Stadt einzureiten, als käme er vom Schlachtfeld.« Er wedelte, plötzlich fast ungeduldig, mit der Hand. »Du bist entlassen, Bruder Rother. Geh und richte dem Stallmeister meine Worte aus, und danach fragst du nach Marius, meinem persönlichen Mundschenk. Er soll dir und Bruder Robin so viel zu essen geben, wie ihr wollt. Ich bin sicher, ihr habt einen anstrengenden Ritt hinter euch.«
Rother schien noch etwas sagen zu wollen. Einen Moment lang rang er sichtlich mit sich selbst, dann aber nickte er nur knapp, verbeugte sich tief und entfernte sich rückwärts gehend. Als er bei der Tür angekommen war und sich umwandte, wollte auch Robin folgen, aber Horace hielt sie mit einer raschen Geste zurück.
»Bruder Robin - bleibt.«
Robin sah ihn überrascht an, und auch Rother hielt mitten in der Bewegung inne und blickte irritiert über die Schulter zurück. Diesmal war sie sicher, sich das misstrauische Funkeln in seinen Augen nicht nur einzubilden.
»Ich habe noch einige Fragen an dich, bevor uns die Glocke zum Gebet ruft«, sagte Horace.
Rother starrte ihn und Robin noch immer abwechselnd und mit immer größer werdender Verwirrung an, bis Horace demonstrativ den Kopf wandte und ihm einen kurzen, aber eisigen Blick zuwarf. Dann führte er seine unterbrochene Bewegung hastig zu Ende, trat aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Robin wollte etwas sagen, doch Horace gebot ihr mit einer raschen Geste, still zu sein, war mit drei schnellen Schritten an der Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Wie eine Küchenmagd, die sichergehen will, nicht beim neuesten Klatsch und Tratsch belauscht zu werden, lugte er auf den Gang hinaus, schloss die Tür erst nach einer geraumen Weile wieder und sehr leise und legte den Riegel vor. Einen Moment lang blieb er vollkommen reglos stehen, bevor er sich umdrehte und sie mit einem ebenso langen wie undeutbaren Blick maß.
»Bruder Robin«, murmelte er. »Oder sollte ich besser sagen ... Schwester?«
»Horace?«, murmelte Robin verständnislos.
Horace seufzte. »Wenn man ein Unheil nicht ausmerzt, dann wird es einen immer wieder einholen«, sagte er kopfschüttelnd.
»Bruder Abbé hatte Recht.«
»Bruder Horace?«, fragte Robin erneut; und mittlerweile vollkommen verstört. Sie wusste einfach nicht mehr, was sie von Horaces sonderbarem Benehmen halten sollte.
Der Komtur deutete durch nichts an, ob er Robins Verwirrung bemerkte oder nicht. Robin vermochte seinem Blick nicht standzuhalten. »Ich habe behauptet, du hättest den Anstand gehabt, zusammen mit der Sankt Christophorus unterzugehen«, sagte er. »Er beharrte darauf, du würdest das nicht tun.« Er seufzte. »Er hatte Recht.«
»Bruder Horace?«, murmelte Robin zum dritten Mal. Ihre Stimme zitterte. Ihr Blick glitt mit wachsender Verunsicherung über Horaces Gesicht und blieb schließlich an seinen so gnadenlos erscheinenden, durchdringenden Augen hängen, in denen noch immer nicht das geringste Gefühl zu erkennen war. »Ich ... ich verstehe nicht ...«
»Was?«, unterbrach sie Horace. Sein Gesicht blieb vollkommen starr und unbewegt. »Wenn sich jemand einen Spaß mit dir macht?« Und plötzlich begann er zu lachen, trat auf sie zu und schloss sie so ungestüm in die Arme, dass ihr die Luft wegblieb.
Robin stand ein paar Augenblicke lang wie gelähmt da, bis Horace sie wieder losließ und hastig einen Schritt zurückwich. Augenscheinlich war ihm seine kleine Entgleisung peinlich, denn er trat einen Moment lang unbehaglich von einem Bein auf das andere und wich ihrem Blick aus, aber Robin sah trotzdem, dass die Härte aus seinem Blick verschwunden war und einem amüsierten Funkeln Platz gemacht hatte; und einem Ausdruck so tiefer Erleichterung und Freude, wie sie es bei diesem unerbittlichen Mann niemals erwartet hätte.
»Bitte verzeih«, sagte er und räusperte sich unbehaglich. »Ich war ...«
»Überrascht?«, schlug Robin vor, als Horace nicht weitersprach.
Der Tempelritter schüttelte den Kopf. »Unendlich erleichtert, dich lebend wiederzusehen«, sagte er, »und allem Anschein nach zumindest äußerlich unversehrt. Du bist doch unversehrt, oder?«
Robin hatte nicht das Gefühl, dass Horace tatsächlich eine Antwort auf diese Frage erwartete, und selbst wenn es so gewesen wäre - sie hätte in diesem Moment gar nichts sagen können. Ihre Verwirrung hatte ein Ausmaß erreicht, das ihr fast körperlich den Atem nahm. Sie deutete nur ein Nicken an, das Horace aber als Antwort vollkommen zu genügen schien, denn der Ausdruck von Verlegenheit wich nun endgültig von seinen Zügen.
»Das ist gut«, sagte er. »Ich danke Gott, dass er so gut auf dich acht gegeben hat.« Er schlug das Kreuzzeichen vor Brust und Stirn. »Wir alle waren in großer Sorge, als wir hörten, dass du dich in der Gewalt des Alten vom Berge befindest.«
Robin starrte ihn an. Es dauerte einen Moment, bis ihr wirklich klar wurde, was Horace da gerade gesagt hatte. »Ihr ... ihr habt gewusst, dass ich noch lebe?«
Nun trat ein fast amüsiertes Funkeln in die Augen des hoch gewachsenen Tempelritters. »Gott achtet auf jedes einzelne seiner Schäfchen«, antwortete er. »Und wir auch.«
»Seit wann?«, entfuhr es Robin. Dann wurde ihr klar, wie leicht es wäre, diese Frage falsch zu verstehen, und sie fügte fast hastig hinzu: »Ich meine: Seit wann habt ihr es gewusst?«
»Wir haben nach dir gesucht«, antwortete Horace. »Hätte dieser Sklavenhändler dich nicht weggeschafft, wären wir zwei Tage später bei dir gewesen. Als uns zu Ohren kam, dass seine Karawane von Assassinen überfallen worden ist, haben wir schon das Schlimmste befürchtet.« Sein Blick wurde ganz leicht spöttisch.
»Aber wie es aussieht, hat sich ja alles zum Besten gewendet.«
Robin schwieg eine geraume Weile, in der sie Horace nur ansah. Als sie schließlich weitersprach, war ihre Stimme leiser, gefasst, aber nicht ganz frei von Vorwurf. »Ich nehme an, es hat ganz gut in Eure Pläne gepasst, den Sohn des Alten vom Berge mit einer Christin verheiratet zu sehen?«
Sie bedauerte die Worte augenblicklich, aber es war zu spät.
Horace lächelte unerschütterlich weiter, aber es war ein Lächeln, das nun um mehrere Grade kühler wirkte. »Es hat ganz gut in unsere Pläne gepasst«, antwortete er, »dich am Leben und in Sicherheit zu wissen. Was Bruder Abbé damals getan hat, war ein schwerer Fehler, der nicht nur ihn, sondern den ganzen Orden in große Gefahr hätte bringen können. Zugleich war es vor Gott richtig, denn das Leben jedes einzelnen Menschen ist heilig, und es steht auch dem Mächtigsten unter uns nicht zu, es gegen Argumente der Politik aufzuwiegen.«
Und so etwas sagte ein Mann, dachte Robin verstört, der gerade im Begriff stand, das Leben Tausender zu opfern, nur aus Gründen der Politik und des Machterhalts heraus?
»Und was das Verheiratetsein angeht«, fuhr Horace fort, »so wurde euer Bund nicht nach den Gesetzen der Christenheit und schon gar nicht vor Gott geschlossen, wenn ich richtig informiert bin.«
Auch darüber würde sie nachdenken müssen, dachte Robin, von allem, was er bisher gesagt hatte, vielleicht sogar am intensivsten. Bei aller Wiedersehensfreude, die sie empfand, sollte sie nicht vergessen, wie mächtig und auch gefährlich dieser Mann war. Horace hatte zweifellos die Wahrheit gesagt - er würde niemals so weit gehen, sie zu töten, um diesen Schandfleck vom ohnehin alles andere als blütenweißen Gewand des Templerordens zu tilgen, aber es gab andere Wege, einen Menschen unschädlich zu machen. Zugleich hatte sie das sichere Gefühl, dass er ihr mit diesen Worten eine Frage gestellt hatte, auf die er eine Antwort erwartete. Stattdessen stellte sie selbst eine.