Die Antwort - auch wenn sie ihr nicht gefiel - war ein ganz eindeutiges ja. Was er nicht hatte voraussehen können, war ihre kleine List mit dem Messer gewesen, doch mit einem Mal war sie nicht mehr stolz darauf, sondern schämte sich fast, so heimtückisch gewesen zu sein. Er hatte Recht: Es war nicht ritterlich gewesen. Aber auf eine ganz andere Art, als sie bisher geglaubt hatte.
Salim schwang sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel, und kaum hatte er es getan, da schien auch er zum Schatten zu werden und verwandelte sich endgültig in einen Assassinen. Irgendwann, das nahm sie sich vor, würde sie diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Aber nicht heute.
Die beiden Reiter wendeten ihre Tiere und preschten die Düne hinauf. Auch die Männer, die oben auf Salim warteten, ließen ihre Pferde nun antraben, sodass sie fast gleich schnell ritten, als Salim und seine Begleiter bei ihnen ankamen, und im nächsten Augenblick schien es, als wären sie einfach verschwunden. Robin blickte noch einen Moment in die Richtung, in der die hitzeflimmernde Luft über der Wüste das halbe Dutzend schwarzer Gespenster aufgesogen hatte, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und hob noch in der Bewegung ganz automatisch die Hand, um den Turban wieder aufzusetzen.
Sie hätte es auch getan, wäre ihr Blick nicht dem der Männer begegnet, die noch immer in einem lockeren Dreiviertelkreis dastanden und sie anstarrten, als hätten sie noch nicht ganz begriffen, dass das Schauspiel vorüber war. Sie drehten ausnahmslos den Kopf, wenn sich ihre Blicke begegneten, und einige von ihnen hatten es plötzlich sehr eilig, sich umzudrehen und zu gehen. Aber Robin hätte schon blind sein müssen, um nicht trotzdem zu begreifen, was in ihnen vorging. Sie hatte keine Bewunderung erwartet, nicht einmal Anerkennung für ihre Leistung - so gut sie auch gewesen sein mochte -, aber nun erblickte sie Bestürzung, ja, sogar Entsetzen in einigen Gesichtern, und hier und da mühsam unterdrückten Zorn. Ja, bei mindestens einem Mann war sie sich sogar sicher, dass er sich nur noch mit aller Mühe beherrschen konnte, nicht einfach auf sie zuzutreten und sie zu schlagen.
Die Erkenntnis machte sie wütend und traurig zugleich. Die meisten dieser Männer hier waren ihre Freunde. Viele - wenn nicht alle - hatten sie vorhin während des Kampfes mit johlendem Händeklatschen angefeuert, aber plötzlich wurde ihr klar, dass sie es in dem sicheren Wissen getan hatten, einem Spiel zuzusehen, allerdings einem gänzlich anderen Spiel, als Robin geglaubt hatte. Für diese Männer hatte festgestanden, dass Salim sie eine Weile gewähren lassen und mit ihr spielen würde wie die Katze mit einer Maus, um sie dann niederzuwerfen. Schließlich war er ein Mann - ein Krieger! - und sie nur eine Frau. Möglicherweise hätte man ihr sogar noch verziehen, ihn besiegt zu haben, denn ihre letzte Attacke war tatsächlich alles andere als fair gewesen und konnte durchaus als weibliche Heimtücke gewertet werden. Was diese Männer jedoch nicht verzeihen konnten, das war die Tatsache, dass sie aus etwas, was jedermann wusste, etwas gemacht hatte, was jedermann sah.
Statt also zu tun, was ihr ihre Vernunft riet - nämlich ihr Haupt wieder zu bedecken und das schwarze Tuch erneut vor ihrem Gesicht zu befestigen -, wickelte sie den Turban ganz auf, indem sie das Tuch wie eine Peitsche knallen ließ, warf es sich mit einer trotzigen Bewegung über die Schulter und fuhr sich gleichzeitig mit den gespreizten Fingern der anderen Hand durchs Haar. Ihr war klar, dass sie sich ziemlich dumm benahm. Ob ihr nun gefiel oder nicht, was sie sah, die Welt war nun einmal so, und sie würde sie nicht ändern; schon gar nicht durch solche dummen, trotzigen Aktionen. Salim würde ihr Vorhaltungen machen und ziemlich ärgerlich sein, wenn er davon erfuhr (und es bestand kein Zweifel daran, dass er davon erfuhr), und Robin belegte sich selbst in Gedanken mit einigen wenig schmeichelhaften Bezeichnungen, denn sie wusste auch, wie schwer sie es Salim und auch seinem Vater mit einem solchen Benehmen machte.
Niemand hatte es bisher laut ausgesprochen. Niemand wagte es, sich auch nur irgendwas anmerken zu lassen, aber Robin war klar, dass Salim weder sich selbst noch seinem Vater einen Dienst erwiesen hatte mit der Wahl seiner Gemahlin. Salim war nicht irgendein Krieger, so wenig wie Sheik Raschid Sinan irgendein Fürst war. Möglicherweise hätte man es ihm verziehen, sich ein hübsches Christenmädchen, über das er auf eine seiner zahlreichen Reisen gestolpert war, mitzubringen und in seinen Harem aufzunehmen. Robin war ganz gewiss nicht die einzige Christin gewesen, der ein solches Schicksal widerfuhr. Aber Salim hatte sie nicht als Beute mitgebracht, und sein Harem bestand ganz genau aus einer Person: aus ihr selbst. Er hatte sie geheiratet.
Robin verscheuchte auch diesen Gedanken, warf noch einen trotzigen Blick in die Runde, der unerwidert blieb, denn es war niemand mehr da, der sie hätte ansehen können, und ging die paar Schritte zum Strand hinunter. Ihr Haus lag in der anderen Richtung. Wenn sie der Wasserlinie folgte, um es zu erreichen, bedeutete das einen großen Umweg. Aber das Schwindelgefühl war immer noch da, wenn auch nicht mehr so schlimm wie zuvor, und ihr war mit einem Mal unter der doppelten Schicht von Kleidung, die sie trug, entsetzlich heiß. Zwar langsamer werdend, aber ohne anzuhalten, schüttelte sie die Stiefel von den Füßen, hob sie im Vorübergehen hoch und atmete hörbar auf, als die erste Welle über ihre nackten Füße leckte. Das Wasser war warm, kam ihr in der Gluthitze des Tages aber eiskalt und unglaublich erfrischend vor, und Robin musste sich wirklich beherrschen, um sich nicht den Mantel und auch noch die Kleider, die sie darunter trug, vom Leib zu reißen und sich in die eisigen Fluten zu stürzen.
Einen Moment später lächelte sie über ihre eigenen Gedanken. Das war vollkommen verrückt. Selbst Salim und sein Vater konnten sie nicht mehr beschützen, wenn sie etwas so Dummes tat, und ganz davon abgesehen würde sie es nicht einmal dann tun, wäre sie ganz allein an diesem Strand. Was war nur mit ihr los? Irgendein Teil von ihr schien regelrecht versessen darauf zu sein, etwas Verrücktes zu tun.
Vielleicht wollte sie einfach herausfinden, wie weit sie gehen konnte.
Obwohl in dem kleinen, aus nur einer Hand voll Häuser bestehenden Fischerdorf jetzt keine Menschenseele mehr zu sehen war, spürte Robin doch genau, dass sie beobachtet wurde, während sie der vor- und zurückweichenden Flutlinie folgte und sich dem ehemaligen Haus des Dorfvorstehers näherte, das nun leer stand und für die gelegentlichen Besuche von ihr und Salim reserviert war. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Dieser kleine Ort hatte in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt, und sie hatte all ihren Einfluss in die Waagschale geworfen, all ihre Überredungskunst aufgewandt, um ihn wieder zu dem zu machen, was er vor jenem schicksalhaften Tag gewesen war.
Und dennoch war sie plötzlich nicht mehr sicher, ob es nicht ein Fehler gewesen war, hierher zurückzukehren. Auf ihr Drängen hatte Sheik Sinan den überlebenden Dorfbewohnern die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht und einige sogar aus der Sklaverei zurückgekauft - und dennoch waren die meisten Menschen, die heute hier lebten, Fremde für sie. Was sie gerade in den Gesichtern der Männer gelesen hatte, hätte sie nicht überraschen dürfen. Der ehemalige Bewohner des Hauses, das sie ansteuerte, war ebenso tot wie die Hälfte aller anderen hier, und auch wenn ihr die Überlebenden noch so oft und glaubhaft versicherten, ihr dankbar zu sein und niemals zu vergessen, dass sie ihr, der Fremden, ihr Leben und ihre Freiheit verdankten (was die Wahrheit war), so begann sich Robin doch allmählich einzugestehen, dass sie sie niemals wirklich akzeptieren würden. Das konnten sie nicht.