»Wenn ihr all das gewusst habt, warum habt ihr niemals einen Boten zu mir geschickt? Wieso ist keiner von euch gekommen?«
Seinem weiter abkühlenden Lächeln nach zu urteilen, war dies eine Frage, die ihr ganz eindeutig nicht zustand. Er beantwortete sie trotzdem. »Warum sollten wir? Es war alles gut so, wie es gekommen ist. Und es wäre auch weiter gut geblieben, hätte dieser Narr Dariusz einfach getan, was man ihm aufgetragen hat.«
»Und was wäre das gewesen?«, fragte Robin.
Horaces Blick verdüsterte sich, doch sie spürte auch, dass sein Zorn nicht ihr galt. »Nichts anderes, als seine Männer hierher zu führen, ohne nebenbei seine eigenen Pläne und Absichten zu verfolgen.« Er schüttelte zornig den Kopf. »Wenn es wahr ist, was Rother gerade berichtet hat ...«
»Es ist wahr«, sagte Robin.
Horace fuhr mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln fort. »... dann hattet ihr mehr Glück als Verstand. Wären es Krieger gewesen, auf die ihr in diesem Dorf gestoßen seid, und nicht feige Wegelagerer und Banditen, dann wäre jetzt keiner von euch noch am Leben. Wir brauchen die Männer für die bevorstehende Schlacht gegen Saladins Truppen, und nicht, um ein paar Halsabschneider und Tagediebe zu jagen.«
Anscheinend, dachte Robin, hatte Horace doch nicht wirklich zugehört. Die Männer, gegen die sie gekämpft hatten, mochten Plünderer gewesen sein, aber es konnte durchaus sein, dass sie sich in dem bevorstehenden Kampf Saladins Truppen anschlossen. Aber sie ersparte es sich, darauf hinzuweisen. »Ist Bruder Abbé ... auch hier?«, fragte sie stattdessen.
»Ja«, antwortete Horace. »Du wirst später Gelegenheit haben, mit ihm zu reden. Doch wir sollten unser kleines Gespräch nicht zu lange fortsetzen, um nicht das Misstrauen deines kleinen Freundes zu erregen.«
»Rother?«, fragte Robin. Ohne dass sie selbst genau hätte sagen können, warum, war es ihr unangenehm, dass Horace Rother als ihren Freund bezeichnete.
»Ja.« Horace nickte. »Er ist ohnehin schon misstrauisch geworden. Ich nehme an, Dariusz hat ihm aufgetragen, dich ganz genau im Auge zu behalten.«
Eine Erinnerung schoss Robin durch den Kopf: Sie sah Rothers Hand, die nach dem Dolch in seinem Gürtel tastete. Sie hütete sich, Horace davon zu erzählen, doch möglicherweise schwieg sie einen Moment zu lange, und wahrscheinlich spiegelte ihr Gesicht in diesem Moment sehr deutlich das wider, was sie empfand, denn Horace nickte, so als hätte sie seine Frage beantwortet, und fuhr in kühlerem Tonfall fort: »Ja, das habe ich mir gedacht. Wir müssen überlegen, wie wir weiter mit Rother verfahren.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Robin erschrocken.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Horaces Lippen. »Vielleicht gibt es ja eine wichtige Nachricht, die sofort nach Jerusalem gebracht werden muss oder zu einem noch viel weiter entfernten Ort. Und vielleicht muss sie auf den Weg gebracht werden, bevor Dariusz und die anderen hier eintreffen.«
Robin dachte einen Moment lang über seine Worte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Bitte, tut das nicht.«
Alles in allem würde sie Rother damit keinen Gefallen erweisen, das wusste sie. Dariusz wäre nicht Dariusz, würde er nicht seine Schlüsse aus dem plötzlichen Verschwinden des jungen Tempelritters ziehen, und wie sie selbst schmerzhaft hatte erfahren müssen, war er kein Mann, der vergaß oder gar vergab. Und sein Arm reichte weit.
»Dir liegt eine Menge an diesem Jungen, nicht wahr?«, fragte Horace.
»Rother ist kein Junge«, erwiderte Robin, aber Horace wischte ihre Worte mit einer Bewegung fort, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen.
»Er ist ein Kind«, sagte er. »Er mag aussehen wie ein Mann und sich zumindest einbilden, sich wie ein solcher zu benehmen, aber er bleibt ein Junge.« Er schüttelte den Kopf, und sein Blick verdüsterte sich noch weiter. Seine Stimme wurde leiser. »Wie die meisten. Gott möge uns verzeihen, aber wir schicken eine Armee von Kindern in den Krieg.«
Robin wusste nicht genau, was sie darauf sagen sollte, doch Horace schien auch keine Antwort zu erwarten. Er starrte noch einen Moment ins Leere, dann seufzte er tief, gab sich einen sichtbaren Ruck und ging mit schnellen Schritten um den Tisch herum. Er ließ sich schwer in seinen Sessel fallen, bevor er mit veränderter, nunmehr rein sachlicher Stimme fortfuhr: »Wie wird sich dein Schwiegervater in dem Krieg verhalten, der dem König von Jerusalem droht?«
Robin fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Stimmung hatte sich von einem Augenblick auf den anderen geändert, und ihr war, als wäre die Temperatur im Raum plötzlich um mehrere Grade gefallen. Sie überlegte fast verzweifelt, wie sie Zeit gewinnen konnte, um sich eine Antwort auf diese unerwartete Frage zurechtzulegen. Sie hatte keine Ahnung, was Sheik Raschid al-Din Sinan plante. Bis vor wenigen Tagen hatte sie ja noch nicht einmal etwas von der bevorstehenden Schlacht geahnt.
»Ich ... weiß es nicht«, gestand sie schließlich und rettete sich in ein Schulterzucken und ein verlegenes Lächeln. »Salim hat nie mit mir über Politik gesprochen.«
»Das wundert mich«, sagte Horace. »Bruder Abbé rühmt dich als einen der kostbarsten Spitzel unseres Ordens, Bruder. Sollte er sich so in dir getäuscht haben?«
»Salim hat nie mit mir über Politik gesprochen«, sagte Robin noch einmal. »So wenig wie sein Vater.«
»Du warst zwei Jahre lang bei ihnen«, beharrte Horace. »Nicht als Gefangene oder als Gast, sondern als Eheweib seines Sohnes.«
»Mit dem er so wenig über Politik und seine Pläne gesprochen hat, wie es ein christlicher König mit dem Weib seines Sohnes täte«, antwortete Robin.
Horace seufzte. Seine Fingerspitze malte unregelmäßige Kreise auf dem verwitterten Holz der Tischplatte. »Verzeih die Wahl meiner Worte, Robin«, sagte er nach einer Weile, und ohne sie direkt anzusehen. »Sie war ungeschickt. Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber es wäre von großer Bedeutung für uns alle, zu wissen, wo Sinan steht.«
Robin war enttäuscht. Nach der ehrlichen Wiedersehensfreude, die sie in Horaces Augen gelesen hatte, tat der Gedanke doppelt weh, dass sie auch für Abbé und Horace am Ende nichts weiter als ein nützliches Werkzeug war. Dennoch überlegte sie einen Moment lang angestrengt. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Aber so, wie ich Raschid kennen gelernt habe, wird er abwarten, bis sich zeigt, wer der Stärkere ist - und dann den Schwächeren unterstützen.«
Horace hob überrascht den Blick. »Ich wüsste nicht, dass jemand den Alten vom Berge jemals für einen Einfaltspinsel gehalten hätte.«
»Ich weiß nicht, was Ihr mit diesem Wort ausdrücken wollt«, antwortete Robin steif. »Sheik Sinan ist ein Mann von großem Ehrgefühl und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.«
»Sheik Raschid al-Din Sinan?«, vergewisserte sich Horace.
»Der Alte vom Berge? Wir sprechen von demselben Mann? Dem Obersten der Assassinen? Dem Herrn der Meuchelmörder und Attentäter und Giftmischer?«
Robin gemahnte sich zur Vorsicht, als sie den lauernden Unterton wahrnahm, der plötzlich in Horaces Stimme war. Zweifellos hatte Horace sogar Recht, von seinem Standpunkt aus - aber wo war letzten Endes der Unterschied, ob man einen Attentäter oder ein ganzes Heer aussandte, um seine Feinde zu töten?