»Wer ist dieser junge Ritter neben Euch, Bruder Horace?«, fragte Odo.
Horace fuhr leicht zusammen und gab sich keinerlei Mühe, den missbilligenden Ausdruck von seinem Gesicht zu verbannen, der ganz offensichtlich der Tatsache galt, dass niemand anderes als der Großmeister selbst das noch immer geltende Schweigegelübde brach. Er antwortete trotzdem. »Bruder Robin, Odo. Er und Bruder Rother ...«, er machte eine Handbewegung zum anderen Ende der Tafel, wo Rother Platz genommen hatte und sich ganz offensichtlich kaum noch beherrschen konnte, nicht nach einem der Tabletts mit dampfend heißen Speisen zu greifen, die die Bediensteten vorübertrugen, »gehören zu Bruder Dariusz. Sie wurden vorausgeschickt, um frische Pferde für ihn und die Seinen zu holen.«
»Ah ja, Dariusz«, antwortete Odo mit einer Betonung, die so sonderbar war, dass sich Robin beherrschen musste, ihn nicht überrascht anzusehen. »Ich habe davon gehört. Er ist in einen Hinterhalt geraten.« Er runzelte die Stirn. »Bruder Robin? Der Bruder Robin, der im Gefolge Bruder Abbés gereist ist?«
Etwas an seinem Tonfall ließ Robin einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Sie gab das Versteckspiel auf und sah Odo nun - wenn auch scheu - ins Gesicht. Der Großmeister musterte sie interessiert, aber kalt. Wusste er etwas?
Horace bejahte seine Frage. »Sind Gottes Wege nicht manchmal wundersam, Bruder? Nach dem Untergang der Sankt Christophorus hielten wir ihn alle für tot. Und doch hat es Gott in seiner unergründlichen Weisheit gefallen, ihm ein neues Leben zu schenken.«
»Als Sklave der Assassinen, wie mir zu Ohren gekommen ist«, sagte Odo. Robin wollte den Blick senken, doch er hob die Hand und bedeutete ihr mit einer Geste, ihn direkt anzusehen.
»Wie ist es dir in der Gefangenschaft der Heiden ergangen, Bruder?«, fragte er.
Des warnenden Blickes, den Horace ihr verstohlen zuwarf, hätte es nicht bedurft, damit sich Robin ihre Antwort ganz genau überlegte. »Sie haben mich gut behandelt«, sagte sie bedächtig.
»Mehr wie einen Gast als einen Gefangenen.«
Odos Augen wurden schmal. »Dann hast du sicher auch Raschid Sinan selbst gesehen?«
»Er selbst war es, der mich aus der Gewalt des Sklavenhändlers befreit hat«, antwortete Robin.
»Warum?« Es war Ridefort, der diese Frage stellte, nicht Odo, und sie kam schnell und scharf wie ein Peitschenhieb.
Robin suchte fast verzweifelt nach einer Antwort, doch Horace kam ihr zuvor. »Vermutlich ist ihm zu Ohren gekommen, dass sich einer der Unseren unter den Sklaven befindet«, sagte er.
»Immerhin gibt es ein Bündnis zwischen uns und den Assassinen. Möglich, dass er geglaubt hat, es wäre von Vorteil für ihn, einen gefangenen Ordensbruder aus der Gewalt der Sklavenhändler zu befreien.«
Ridefort sah ihn eindeutig verärgert an, doch Horace zeigte sich wenig beeindruckt. Der Marschall stand in der Hierarchie des Ordens eindeutig über Horace, was diesen - zumal als Komtur und damit Hausherr dieser Burg - aber nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. »Das klingt einleuchtend«, gestand er schließlich. »Doch ich frage mich, warum er Bruder Robin dann nicht sofort zu uns geschickt, sondern ihn volle zwei Jahre auf seiner Burg festgehalten hat.«
Horace zuckte betont gelangweilt mit den Schultern. »Wer weiß schon, was im Kopf eines Heiden vorgeht? Bruder Robin ist in den Schoß des Ordens zurückgekehrt, und das allein zählt. Wir sollten Gott dafür danken.«
Robin hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, wie es plötzlich hinter der Fassade von Rideforts mühsam aufrechterhaltener Selbstbeherrschung brodelte, doch der scharfe Verweis, mit dem sie fest rechnete, kam nicht. Stattdessen deutete Ridefort nur ein Nicken an und beließ es mit einem abschließenden, eindeutig drohenden Blick in Robins Richtung, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und winkte einem der Bediensteten, das Essen zu bringen. Robin atmete insgeheim auf, auch wenn sie wusste, dass die Angelegenheit damit noch ganz und gar nicht erledigt war.
Immerhin nahmen weder Odo noch der Marschall das Thema wieder auf, sondern wandten sich stattdessen den Speisen zu, die aufgetragen wurden. Robin tat dasselbe, auch wenn sie im ersten Moment die Zähne zusammenbeißen musste, um ihre Übelkeit zu unterdrücken. Auf den einfachen Holztellern, die die Diener vor ihnen abstellten, befanden sich Hammelfleisch mit einer dicken, würzig riechenden Soße, köstlich duftendes Brot, Gemüse und Obst, und jeder einzelne dieser Bissen für sich war schon mehr, als sie sich in den letzten Tagen auch nur zu träumen gewagt hatte. Ihr Magen knurrte noch einmal und jetzt so laut, dass Ridefort sie missbilligend und Odo mit einem fast schadenfroh anmutenden, breiten Grinsen ansahen.
»Täusche ich mich, Bruder Horace, oder hat Bruder Dariusz seine alte Angewohnheit immer noch nicht abgelegt, seine Männer zu schlecht zu verköstigen?«
»Ich werde mit ihm darüber reden«, sagte Horace. »Bescheidenheit mag eine gottgefällige Eigenschaft sein, doch der Arm, der ein Schwert schwingt, braucht auch die Kraft, es zu halten.«
»Wohl gesprochen«, sagte Odo. »Und wo wir schon einmal dabei sind - wie viele Mäuler habt ihr hier auf Safet zu stopfen?«
»Mehr als eintausenddreihundert«, antwortete Horace. Er klang ein bisschen besorgt, fand Robin, und schon seine nächsten Worte machten ihr auch klar, warum. »Ihr habt die Ochsenkarren, Esel und Kamele gesehen, die unentwegt zur Burg heraufkommen. Und doch fürchte ich, werden unsere Vorratskammern bald wieder leer sein. Die Burg ist nicht für eine so große Anzahl von Männern gebaut.«
Robin erschrak. Eintausenddreihundert Männer? Die Zahl allein war mehr, als sie sich vorstellen konnte. Safet war groß, aber nicht so groß. Dazu kam, dass sich hier im Speisesaal allerhöchstens siebzig Ritter aufhielten, und unter ihnen waren noch etliche Gäste aus dem Gefolge des Großmeisters. Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass für die Burg und die angrenzenden Ländereien so viele Knechte arbeiten und so viele Soldaten vorhanden sein sollten. Von der Stadt unten am Fuße der Burg ganz zu schweigen.
»Wir werden Eure Gastfreundschaft nicht mehr lange strapazieren müssen«, sagte Odo. »Schon in den nächsten Tagen werden die letzten Truppen eintreffen. Der Augenblick der Schlacht ist nicht mehr weit.«
In seiner Stimme schwang eine Begeisterung mit, die Robin erschauern ließ, aber sie unterdrückte den Impuls, erschrocken zu ihm aufzusehen, sondern beugte sich nur noch ein Stückchen tiefer über ihren Teller und begann vorsichtig zu essen. Als sie den ersten Bissen kaute, wurde ihr tatsächlich übel. Sie musste all ihre Willenskraft aufbieten, um das Essen im Mund zu behalten, und als sie den Bissen herunterschluckte, schien es, als wollte er mit aller Macht wieder hinaus. Irgendwie gelang es ihr, des Brechreizes Herr zu werden, und sie brachte sogar das Kunststück fertig, sich zu einem zweiten Bissen zu zwingen; danach wurde es tatsächlich besser.
Robins Blick tastete verstohlen die lange, überreich gedeckte Tafel ab. In ihren Eingeweiden wühlte noch immer die Übelkeit, zu der sich nun ein dumpfer Schmerz gesellte, aber ihr war zumindest nicht mehr speiübel, und mit jedem Bissen, den sie nahm, schmeckte das Essen besser. Auch wenn es nicht so war, so hatte sie doch das Gefühl, sich kaum noch erinnern zu können, wann sie das letzte Mal so gut gegessen hatte; geschweige denn, so reichlich. Ganz leise meldete sich ihr schlechtes Gewissen, als sie an die Männer dachte, die bei Dariusz zurückgeblieben waren, was ihrem Appetit aber keinen wirklichen Abbruch tat. Ein gutes Gewissen war eine Sache, aber ein knurrender Magen eine ganz andere. Sie tröstete sich damit, dass Bruder Horace zweifellos Recht hatte: Der Arm, der ein Schwert führte, brauchte auch die Kraft, es zu halten. Rother schien das wohl ganz ähnlich zu sehen, denn er griff mit so unübersehbarem Appetit zu, dass ihm die Ritter neben ihm immer amüsiertere Blicke zuwarfen.