Endlich hörte ihr Magen auf zu revoltieren, sodass sie aufstehen und ihre Kammer verlassen konnte. Das Läuten der Glocke brach ab, als sie die schwere Holztür hinter sich schloss, aber Robin wandte sich trotzdem hastig um und lief so schnell den nur von wenigen, heftig rußenden Fackeln erhellten Gang hinab, wie sie gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen. Gottlob hatte sie sich den Weg zum Hof hinab gründlich eingeprägt, sodass sie nicht Gefahr lief, sich in den labyrinthischen Gängen und Tunnelgewölben der Festung zu verlaufen.
Dennoch war sie die Letzte, die - gerade noch mit dem allerletzten Schlag der Glocke - in die kleine Kapelle trat. Sämtliche Templer waren hier versammelt - Odo, Horace und Ridefort standen ganz vorne in der rechten der beiden sich an den Längsseiten der Kapelle gegenüberstehenden Bankreihen -, und Robin fuhr leicht erschrocken zusammen, als sie sah, dass sie als Einzige barhäuptig eingetreten war. Hastig schloss sie die Tür hinter sich, schlug in der gleichen Bewegung die Kapuze ihres Mantels hoch und kniete in der letzten Bankreihe nieder; gerade noch im letzten Moment, bevor die Messe begann.
Robin hatte Mühe, dem Zeremoniell zu folgen. Ihre Lippen bewegten sich, ohne die lateinischen Worte des Gebetes wirklich zu formen, und es wurde noch schlimmer, als die Ritter im Wechselspiel der beiden Seiten zu singen begannen. Plötzlich war sie sehr dankbar für die weit nach vorne gezogene Kapuze ihres Mantels, die ihr Gesicht fast vollkommen verbarg, sodass ihr kleiner Betrug wenigstens nicht auf den ersten Blick auffiel. Sie hatte so vieles vergessen und so vieles erst gar nicht gewusst. Während ihrer Zeit in der Komturei in Friesland hatte Abbé sie so manches gelehrt, ihr aber vor allem beigebracht, möglichst glaubwürdig den Anschein zu erwecken, sich in den komplizierten Riten und Zeremoniellen des Templerordens auszukennen. Niemals hatte sie vorgehabt, tatsächlich bei den Templern zu leben, und schon gar nicht hier, im innersten Zirkel der Macht. Sie fragte sich, wie lange diese Maskerade wohl noch gut gehen würde, bevor sie einen entscheidenden Fehler machte und ihr ganzes Lügengebäude zusammenbrach.
Ein dünner, aber rot glühender Schmerz bohrte sich erbarmungslos in ihren Leib, und Robin krümmte sich und konnte gerade noch einen Schmerzenslaut unterdrücken. Der Moment ging so schnell vorüber, wie er gekommen war, aber vielleicht trotzdem nicht schnell genug, denn der Ritter neben ihr unterbrach für einen Augenblick sein gemurmeltes Gebet und sah sie ebenso aufmerksam wie alarmiert an. Er sagte nichts, doch sein Blick wurde so durchdringend, dass Robin schon wieder beinahe in Panik zu geraten drohte. Ihr war klar, dass man auf der Burg ohnehin über sie redete; Schweigegelübde hin oder her. Und auch das war etwas, was sie dank der unbarmherzigen Knute, unter der Dariusz seine Männer hielt, beinahe vergessen hatte:
Gerade weil das Leben der Tempelritter so hart und entbehrungsreich war, achteten die Männer aufeinander. Das Mitleid eines ihrer Ordensbrüder zu erregen konnte sie sich ebenso wenig leisten wie sein Misstrauen. Auch wenn sich die Krieger Gottes Askese, Entbehrung und Härte sich selbst gegenüber in großen Lettern auf die Fahnen geschrieben hatten, so gab es auch Ärzte unter ihnen, und so wenig, wie sie sich eine schwere Verletzung erlauben konnte, konnte sie es sich leisten, etwa in den Verdacht zu geraten, krank zu sein. Solange sie Wappenrock und Rüstung der Tempelritter trug, mochte sie als Mann unter Männern durchgehen, aber ein Arzt würde sie auf den ersten Blick enttarnen.
Im Grunde lief es immer wieder auf dasselbe hinaus, dachte sie niedergeschlagen. Sie hätte niemals herkommen sollen. Aber da das nun einmal geschehen war, durfte sie keine Stunde länger auf Safet verbringen, als unbedingt nötig war.
Robin verfluchte sich selbst in Gedanken dafür, heute Morgen auf ihren Verstand und nicht auf die Stimme ihres Herzens gehört zu haben, als sie vor der Entscheidung stand, den Assassinen zu folgen oder Rothers Leben zu retten. Vielleicht hätten die Männer ihn gar nicht getötet. Vielleicht - nein, sicher! - hätte ein einziges Wort von ihr genügt, und sie hätten ihn verschont, und hätte sie auch nur einen einzigen Moment nachgedacht, statt einem ebenso sentimentalen wie schädlichen Gefühl nachzugeben, so könnte sie jetzt schon wieder bei Salim sein, in seinen Armen liegen und die kostbarsten Speisen und das Gefühl des edelsten Stoffes auf der Haut genießen, statt mit schmerzenden Knien auf hartem Steinboden zu hocken, zu frieren und dem Knurren ihres Magens zu lauschen, dem die Mahlzeit vom Mittag längst nicht gereicht hatte, ihn alle überstandenen Entbehrungen der letzten Tage vergessen zu lassen.
Unter dem weit nach vorne gezogenen Rand ihrer Kapuze hervor suchte sie nach Rother, der sich irgendwo hier in der Kirche befinden musste. Sie sah ihn nicht, doch plötzlich blieb ihr Blick an einer knienden Gestalt in einer der vorderen Bankreihen auf der anderen Seite hängen. Für einen winzigen Moment hatte der Ritter den Kopf gehoben, um das Kreuzzeichen zu schlagen und den Blick dem einfachen Altar an der Stirnseite der Kirche zuzuwenden, und Robins Atem stockte, als sie sein Gesicht im Profil sah. Der Augenblick ging zu schnell vorüber, um mehr als einen flüchtigen Eindruck zu gewinnen, und doch: Sie war beinahe sicher, unter dem kaum noch vorhandenen Haar das rundliche Gesicht Bruder Abbés erkannt zu haben.
Konnte es sein?, dachte sie aufgeregt. Sicher, Bruder Horace hatte gesagt, Abbé befinde sich auf einer Mission außerhalb der Burg, aber er hatte nicht gesagt, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen wäre. Und seither waren Stunden vergangen.
Robins Herz begann aufgeregt zu klopfen, und sie faltete die Hände fester, damit der Mann neben ihr, der sie noch immer insgeheim aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sie sehr wohl merkte, das Zittern ihrer Finger nicht sah. Die Kapelle war nur schlecht beleuchtet. Es brannten nur einige wenige Kerzen, die deutlich mehr Schatten als Licht in den Raum brachten, und der Ritter hatte das Haupt nun wieder gesenkt, sodass sie nur noch seine Kapuze sah. Trotzdem ... er war nicht sehr groß. Unter dem schmutzigen Stoff seines Mantels spannten sich breite, fleischige Schultern, und selbst im Knien war ihm seine Leibesfülle durchaus anzusehen. Aber wenn es Abbé war - warum war er dann nicht schon längst zu ihr gekommen?
Die Messe schien kein Ende zu nehmen. Nie waren ihr die Lieder so lang, die Gebete so endlos und die Predigt, die Odo selbst hielt, so ermüdend und unendlich vorgekommen. Als der Großmeister schließlich ein letztes Gebet sprach und sie mit seinem Segen entließ, hatte sie das Gefühl, stundenlang auf dem harten Steinboden gekniet und auf das Ende des Gottesdienstes gewartet zu haben.
Während die Ritter einer nach dem anderen und in Anbetracht ihrer großen Zahl erstaunlich lautlos aufstanden, um die Kapelle zu verlassen, versuchte sie einen unauffälligen Blick unter die Kapuze des Mannes zu erhaschen, in dem sie Bruder Abbé erkannt zu haben glaubte, doch es gelang ihr nicht. Wie fast alle anderen ging er mit gebeugten Schultern und demütig gesenktem Haupt, die Hände auch jetzt noch im Gebet vor der Brust gefaltet, und da sich die Ritter schnell und sehr diszipliniert bewegten, wagte es Robin nicht, einfach stehen zu bleiben und zu warten, bis er näher heran war. Doch allein die Art, wie sich der Mann bewegte, machte ihren Verdacht beinahe zur Gewissheit. Es war Bruder Abbé. Aber er musste doch wissen, dass sie hier war! Er musste doch mit Horace gesprochen haben!