Auch draußen auf dem Hof wurde es nicht besser. Die Ritter stellten sich in zwei präzise ausgerichteten Reihen vor der kleinen Kapelle auf und marschierten dann schweigend über den verlassenen Hof. Es war ihr vollkommen unmöglich, sich ihrem alten Lehrmeister zu nähern, ohne die Ordnung zu stören und damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Erst als sie den Palas erreicht hatten und die Ritter in verschiedenen Richtungen davongingen, um zu ihren Schlafquartieren zu eilen, löste sich die allgemeine Ordnung auf. Noch immer sprach niemand, doch die Männer hatten es nun sehr eilig. In wenigen Stunden schon würde die Glocke wieder zum Morgengebet rufen, und die viel zu wenigen Augenblicke Schlaf, die ihnen bis dahin vergönnt waren, waren zu kostbar, um sie mit etwas so Banalem wie Reden zu vergeuden; selbst wenn es ihnen gestattet gewesen wäre.
Auch Robin schlug den Weg zu ihrem Quartier ein, ging aber ein wenig langsamer als die anderen und blieb nach wenigen Schritten stehen, um so zu tun, als müsse sie etwas an ihrem Stiefel richten. Was die anderen Ritter anging, so schien ihre Einschätzung richtig gewesen zu sein: Niemand nahm Notiz von ihr. Die Männer strebten rasch an ihr vorüber, um dem einzigen Feind zu entgehen, der vielleicht noch schlimmer und auf jeden Fall hartnäckiger als die allgegenwärtige Hitze war: der Müdigkeit. Unter dem Rand ihrer Kapuze hervor beobachtete sie, wie der vermeintliche Abbé durch eine Tür am anderen Ende des Ganges verschwand. Langsamer, als nötig gewesen wäre, aber nicht so langsam, dass es auffiel, richtete sie sich wieder auf, setzte ihren Weg fort und machte kehrt, als sie endlich allein war.
Mit wenigen, weit ausgreifenden Schritten erreichte sie die Tür, durch die Abbé verschwunden war, zögerte noch einen allerletzten Moment und zuckte dann in Gedanken resignierend mit den Schultern. Wenn sie irgendeiner der anderen Templer beobachtete oder ansprach, dann war sie verloren, aber dieses Risiko würde sie einfach eingehen müssen. Wenn es sich bei dem Mann tatsächlich um Abbé handelte (und sie war sich dessen mittlerweile sicher), dann musste sie mit ihm reden. Falls irgendetwas Unvorhergesehenes geschah, konnte sie immer noch versuchen, aus Safet zu fliehen und sich zu Salim durchzuschlagen. Robin hatte die Hoffnung, die sie insgeheim gehegt hatte, nämlich, dass sich auch hier in der Templerburg Männer Salims oder seines Vaters aufhielten, mittlerweile aufgegeben, doch sie war zugleich auch sicher, dass die Burg aufmerksam von seinen Assassinen beobachtet wurde.
Hinter der Tür begann eine schmale, in engen Windungen in die Tiefe führende Treppe, deren ausgetretene Stufen so schmal waren, dass Robin sich mit den flachen Händen rechts und links an den Wänden abstützte, um auf dem spiegelglatten Stein nicht den Halt zu verlieren. Es war nahezu vollkommen dunkel. Nur aus der Tiefe drang ein schwacher, rötlicher Lichtschein zu ihr herauf, der ihr zumindest die Richtung wies. Sie versuchte die Stufen zu zählen, kam aber schon nach einem knappen Dutzend durcheinander und gab es auf. In ihrem Kopf begann eine leise, aber penetrante Stimme zu flüstern, die ihr zu erklären versuchte, was für ein Wahnsinn dieses Unternehmen sei. Sie hatte Mühe gehabt, den Weg aus ihrer Kammer heraus zum Hof zu finden, obwohl sie ihn sich vorher extra eingeprägt hatte, und sie lief mehr als nur Gefahr, sich zu verlaufen. Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte nur noch, als sie endlich am Fuß der Treppe angelangt war, wo sie sich in einem niedrigen, von einer heftig rußenden Fackel erhellten Gewölbe wiederfand.
Es gab nur eine einzige Tür, die noch dazu halb offen stand, sodass ihr die Wahl nicht schwer fiel, dahinter schlossen sich eine Art Vorratsraum und eine weitere Treppe an, die in ebenso engen und Schwindel erregenden Windungen wieder nach oben führte wie die, die sie gerade erst herabgestiegen war. Nach einem oder zwei Dutzend Stufen passierte sie ein schmales Fenster, durch das eisiger Wind hereinpfiff, und warf einen flüchtigen Blick hindurch. Die Nacht war so vollkommen schwarz, als hätte der Himmel den Mond und einen Großteil der Sterne verschluckt, aber sie erkannte dennoch, dass sie sich in einem der Türme der Burg befinden musste. Sie zögerte einen kurzen Moment weiterzugehen. Wenn Abbé die Treppe ganz hinaufgegangen war, dann war ihre Verfolgung hiermit zu Ende. Dort oben gab es Wachen, an denen sie sich ganz bestimmt nicht unbemerkt vorbeischleichen konnte.
Aber sie hatte keine Wahl. Ohne auf die immer lauter werdende Stimme ihrer Vernunft zu hören (hätte sie das jemals getan, dann wäre sie jetzt nicht hier, sondern tausend Meilen entfernt in einem kleinen Fischerdorf an der friesischen Küste), setzte sie ihren Weg fort und erreichte nach einer Weile einen Treppenabsatz, von dem aus eine Tür tiefer ins Innere des Turms führte. Sie stand offen. Blassroter Lichtschein fiel auf die Treppe heraus, und Robin glaubte Geräusche zu hören. Stimmen?
Lauschend legte sie das Ohr an den Türspalt. Die Stimmen wurden lauter, leider aber nicht deutlicher. Sie konnte hören, dass es zwei Männer waren, die miteinander redeten - vielleicht stritten -, und ihr Herz schlug noch einmal schneller, als sie nun ganz eindeutig die Stimme Bruder Abbés identifizierte. Ganz egal, wie groß das Risiko auch sein mochte - sie musste einfach weitergehen.
So leise, wie es überhaupt nur möglich war, öffnete sie die Tür gerade weit genug, schlüpfte durch den entstandenen Spalt und sah sich rasch nach rechts und links um. Sie befand sich in einem niedrigen, fensterlosen Gang. Das düsterrote Licht, das sie gesehen hatte, aber auch die Stimmen kamen von links. Zu sehen war niemand. Lautlos näherte sie sich der Abzweigung, blieb einen halben Schritt davor stehen und lauschte mit angehaltenem Atem, während sie sich unendlich behutsam weiter nach vorne schob in dem Versuch, um die Ecke zu spähen.
Ihr Atem stockte endgültig, als sie die beiden Männer sah, die nur wenige Schritte entfernt dastanden. Beide hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Einer der Männer wandte ihr den Rücken zu, sodass sie nur seinen dunklen Haarschopf sehen konnte, doch dafür erkannte sie das Gesicht des anderen umso deutlicher.
Es war Bruder Abbé.
Er war älter geworden. Ganz wie auch bei Horace schienen die Jahre, die seit ihrem letzten Treffen vergangen waren, ein Mehrfaches ihrer Last auf seinen Schultern abgeladen zu haben. Sein Gesicht war noch immer rundlich und wollte nicht so recht zu einem Mann passen, der ein Leben in Enthaltsamkeit und Demut zu führen gelobt hatte, aber es wirkte auf eine schwer zu beschreibende Weise zugleich auch ausgezehrt und verhärmt. Die unerschütterliche Fröhlichkeit, die Robin stets in seinen Augen gelesen hatte, war einer neuen Bitterkeit gewichen, die ihr einen kalten Schauer den Rücken hinabrieseln ließ. Darüber hinaus flammten seine Augen im Moment vor Wut. Robin konnte immer noch nicht verstehen, was Abbé und der andere Ritter miteinander redeten, denn sie bedienten sich einer Sprache, die Robin zwar kannte - des Französischen -, deren sie aber nicht mächtig war. Allerdings begriff sie auch so, dass sie Zeuge eines heftigen Streits wurde, und als sie den Namen Rainald de Châtillion herauszuhören glaubte, zuckte sie unwillkürlich zusammen.
Abbé machte eine zornige Handbewegung und drehte sich gleichzeitig halb herum, und Robin prallte hastig zurück, um nicht gesehen zu werden. Abbé war einer der wenigen Menschen auf der Welt, denen sie vorbehaltlos vertraute, und dennoch spürte sie, dass es im Moment gefährlich für sie wäre, von ihm hier entdeckt zu werden. Sie war nicht sicher, ob er tatsächlich noch derselbe Mann war, den sie das letzte Mal auf dem Deck der sinkenden Sankt Christophorus gesehen hatte. Bei diesem Gedanken überkam sie eine Mischung aus Bitterkeit und Zorn, der keinem speziellen Ziel galt, sondern einem Schicksal, das ihr nun offensichtlich auch noch das Letzte nahm, was ihr geblieben war.