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Sie wartete, bis Rother an ihre Seite getreten war, und setzte dazu an, etwas zu sagen, doch er brachte sie mit einer fast erschrockenen Geste und einem eindeutig beschwörenden Blick zum Schweigen, machte eine Kopfbewegung zum Palas und eilte los. Erst als sie den Hof überquert und das wuchtige Hauptgebäude der Burg betreten hatten, blieb er wieder stehen und wandte sich zu ihr um. Der Blick, mit dem er sie bedachte, war alles andere als freundlich. »Ich hoffe, dir ist klar, dass der Mann Meldung machen wird«, sagte er. »Besser, du denkst dir schon einmal eine gute Geschichte aus, wenn Bruder Horace dich fragt, was du in diesem Turm gesucht hast.«

Eigentlich hatte Robin sich bei ihm bedanken wollen. Sie wagte es nicht einmal, sich auszumalen, was geschehen wäre, wäre Rother nicht im letzten Moment aufgetaucht und hätte den Posten einfach überrumpelt. Aber sein tadelnder Ton machte sie zornig. »Vielleicht wird Bruder Horace dich ja fragen, warum du für mich gelogen hast«, sagte sie anstelle der Worte, die sie sich eigentlich zurechtgelegt hatte. »Oder was du dort oben gesucht hast.« Sie legte den Kopf auf die Seite, und ihre Augen wurden schmal. »Spionierst du mir nach?«

Sie bedauerte die Worte, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte, denn Rother wurde keineswegs wütend - womit sie gerechnet hätte -, sondern wirkte einen Moment lang vollkommen hilflos, und dann zutiefst verletzt. Im nächsten Moment breitete sich auch schon ein Ausdruck von Trotz auf seinem Gesicht aus.

»Und wenn es so wäre?«, fragte er patzig.

»Dann würde ich mich fragen, warum«, gab Robin zurück. Sie versuchte sich selbst in Gedanken zur Ordnung zu rufen. Ganz egal, warum - Rother hatte sie aus einer zumindest unangenehmen Situation gerettet, und sie dankte es ihm, indem sie ihn attackierte! Was sie tat, war zumindest unfair. Und trotzdem hörte sie sich beinahe zu ihrem eigenen Entsetzen fortfahren: »Bruder Dariusz scheint eine sichere Hand in der Wahl seiner Spione zu haben. Berichte ihm ruhig, was du gesehen hast. Aber vergiss dabei nicht zu erzählen, dass ich dir das Leben gerettet habe.«

Rother blickte sie jetzt nicht mehr mit einem Ausdruck von Verletztheit an. Es war viel schlimmer. Einen kurzen Moment lang sah er entsetzt aus, und für einen noch kürzeren Augenblick hatte Robin das sichere Gefühl, dass er nur noch mit allerletzter Anstrengung die Tränen zurückhielt. Dann verhärteten sich seine Züge. Er ballte die Hände zu Fäusten, fuhr auf dem Absatz herum und stürmte mit wehendem Mantel davon.

Robin blickte ihm hilflos nach. Sie streckte den Arm aus, wie um ihn zurückzuhalten, und alles in ihr schrie danach, ihm zuzurufen, dass sie es nicht so gemeint hatte, dass es ihr Leid täte, aber ihre Kehle war zugleich auch wie zugeschnürt. Vollkommen reglos stand sie da und sah ihm nach, während er durch die Halle lief und schließlich wieder auf dem Hof verschwand, und sie blieb auch dann noch eine geraume Weile in unveränderter Haltung stehen und fragte sich vergebens, warum sie das gesagt hatte. Es war nicht das erste Mal, seit dieser Irrsinn begonnen hatte, dass sie etwas sagte oder auch tat, was sie nicht wollte; als wäre da plötzlich ein Teil in ihr erwacht, der mit aller Macht an ihrer eigenen Zerstörung arbeitete.

Aber vielleicht war auch das nur eine billige Ausrede, um sich nicht selbst eingestehen zu müssen, dass sie sich wie eine hysterische Närrin verhalten hatte.

Niedergeschlagen und den Tränen nahe, wandte sie sich um und kehrte in ihr Quartier zurück. Unterwegs begegnete ihr niemand, auch wenn sie das bedrückende Gefühl, beobachtet zu werden, nicht für einen Moment abschütteln konnte.

Die Tür zu dem winzigen Zimmer, das ihr Horace zugewiesen hatte, stand offen. Seltsam - sie war fast sicher, sie vorhin trotz der Eile, in der sie gewesen war, hinter sich geschlossen zu haben. Aber wahrscheinlich war sie nicht mehr in der Verfassung, ihren eigenen Erinnerungen trauen zu können.

Robin trat gebückt ein. Die Kerze, die auf dem dreibeinigen Schemel neben dem Bett stand, war nahezu heruntergebrannt, und die Flamme flackerte bedrohlich in dem Luftzug, den sie mit ihrer eigenen Bewegung verursachte. Ohne hinzusehen, griff sie nach dem schlichten Holzregal neben der Tür, auf dem Horace ihr eine Anzahl weiterer Kerzen zurückgelassen hatte, entzündete den Docht an der fast heruntergebrannten Flamme und beschützte das noch winzige Flämmchen mit der hohlen Hand, während sie das Ende der frischen Kerze in das geschmolzene Wachs drückte.

Erst als sie sich wieder aufrichtete, sah sie den Stoffstreifen, der auf ihrem Bett lag.

Robin erstarrte mitten in der Bewegung.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Jemand war hier gewesen.

Einen halben Atemzug lang starrte sie das kleine Stück aus harmlosem Leinenstoff vollkommen reglos an, dann prallte sie so abrupt zurück, als hätte sie an seiner Stelle einen Skorpion oder eine giftige Spinne auf ihrem Bett entdeckt, und ihre Hand schloss sich ohne ihr Zutun, ja beinahe ohne dass sie es überhaupt registrierte, um den Schwertgriff an ihrem Gürtel. Sie hatte die Waffe schon zu einem Drittel gezogen, als ihr klar wurde, wie albern sie sich benahm. Trotzdem schob sie das Schwert nicht wieder in seine Scheide zurück, sondern warf einen raschen, nervösen Blick durch die offen stehende Tür auf den Gang hinaus, bevor sie die Waffe gänzlich zog und den Stoffstreifen fast behutsam mit der Spitze des Schwertes berührte.

Nichts geschah.

Robin sagte sich zum zweiten Mal, dass sie sich wie eine komplette Närrin benahm, aber sie trat trotzdem nicht näher an das Bett heran, sondern schob die Schwertklinge nur behutsam unter den Leinenstreifen und hob ihn dann mit einem Ruck an.

Darunter kam nichts Bedrohliches zum Vorschein; weder eine Spinne, noch ein Skorpion oder eine Schlange oder irgendein anderes, giftiges Getier. Aber sie sah, dass auf der Rückseite des kaum handgroßen Stofffetzens etwas geschrieben stand.

Endlich schob Robin das Schwert in die Scheide zurück, ging zur Tür und legte mit einer fast unbewussten Bewegung den Riegel vor, bevor sie sich umdrehte und mit klopfendem Herzen zum zweiten Mal ans Bett herantrat. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Fetzen aufhob und ihn so ins schwache Kerzenlicht hielt, dass sie die Schrift darauf erkennen konnte.

Im allerersten Moment erschienen ihr die zwar in sichtlicher Hast, dennoch kunstvoll hingekritzelten Buchstaben und Worte keinen Sinn zu ergeben. Die Tinte war noch frisch. Als Robin mit dem Daumen darüber rieb, blieb ein schmieriger schwarzer Streifen auf ihrer Haut zurück, und eines der Worte wurde gänzlich unleserlich.

Robin ging neben dem Schemel in die Knie und brachte den Stoff näher an die Kerze heran. Das flackernde Licht schien die Buchstaben zu unheimlichem Leben zu erwecken, als versuchten sie aus dem Stoff herauszuspringen, um ihr ihre Botschaft zu übermitteln. Nachdem sie sie einige Augenblicke lang angestrengt angestarrt hatte, wurde ihr zumindest klar, dass die Worte in lateinischer Schrift geschrieben waren. Vor mehr als zwei Jahren, in einer anderen Welt und einem anderen Leben, hatte Bruder Abbé versucht, ihr zumindest die Grundzüge dieser Sprache beizubringen, und obwohl er es irgendwann aufgegeben und bei einer spöttischen Bemerkung der Art belassen hatte, dass es wohl einfacher sei, einem Ochsen das Tanzen beizubringen als einem Bauerntrampel die Sprache der Gelehrten, hatte Robin doch mehr Worte behalten, als ihr bis zu diesem Moment selbst klar gewesen war. Es war ihr nicht möglich, die Botschaft wortwörtlich und ganz genau zu übersetzen, aber es war ihr auch ebenso unmöglich, sie nicht zu verstehen.

Was dort in einer hastigen, aber trotzdem gestochen scharfen Handschrift stand, die in ihrer energischen Art auf eine fast schon Angst machende Weise als die einer hochgestellten Persönlichkeit erkennbar war, das bedeutete sinngemäß nichts weniger als eine Warnung.