Robin drehte sich um und stellte ohne Überraschung zweierlei fest: Sie hatte sich nicht getäuscht, und es war kein Fremder, der sie beobachtete.
»Du musst nicht dort drüben im Schatten stehen und mich anstarren, Rother«, sagte sie kopfschüttelnd. »Komm ruhig her zu mir. Vielleicht entgeht dir sonst am Ende noch ein verräterisches Wimpernzucken oder ein sündiger Blick, von dem du Dariusz berichten kannst.«
Einen Moment lang geschah nichts. Der junge Tempelritter blieb einfach weiter reglos im Schatten eines großen, nur nachlässig aufgebauten Zeltes stehen, das ein wenig windschief wirkte, und obwohl Robin in dem rasch nachlassenden Licht sein Gesicht nicht erkennen konnte, kam er ihr in diesem Moment vor wie ein Kind, das sich bei einer Missetat ertappt fühlte und einfach die Augen schloss und hoffte, nicht gesehen zu werden, solange es die anderen nicht bemerkten. Der Gedanke erschien ihr absurd, zauberte aber schon im nächsten Moment ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen, als ihr klar wurde, dass sie sich an eine Begebenheit aus ihrer eigenen Jugend erinnerte. Sie selbst war es gewesen, die im Spiel das Gemüsebeet einer Nachbarin zertrampelt und ganz genau so reagiert hatte.
Rother gab sein albernes Verhalten schließlich auf und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. Sein Blick streifte den Knappen mit dem Fass, und er schürzte kurz und fast verächtlich die Lippen. Ganz offensichtlich hielt er nicht viel von solcherlei kleinen Tricks, so nützlich sie auch sein mochten. Wahrscheinlich, dachte Robin, teilte er Dariusz’ Meinung, dass ein Ritter, der diese Bezeichnung wirklich verdiente, es gar nicht erst so weit kommen lassen würde, dass seine Rüstung Rost ansetzte.
»Warum bist du nicht in deinem Zelt?«, fragte er.
»Weil es mir niemand befohlen hat«, antwortete Robin spöttisch. Rother sah sie leicht verwirrt an, und Robin rang sich zu einem entschuldigenden Lächeln durch und fügte mit einer entsprechenden Geste und veränderter, versöhnlicher Stimme hinzu: »Du hast völlig Recht, Rother. Ich sollte die Zeit nutzen und schlafen. Aber ich finde keine Ruhe.«
Rothers Blick wurde für einen Moment abschätzend. Wahrscheinlich, dachte Robin, fragte er sich, ob diese freundlichen Worte nur der Vorbereitung einer neuen, gezielten Attacke dienten, und wahrscheinlich hatte sie genau das verdient. Obwohl es ihr schwer fiel, sprang sie innerlich über ihren Schatten und fuhr fort: »Gehen wir ein Stück gemeinsam? Nicht, dass ich mich am Ende verirre und du mich abermals suchen musst.«
Auch diese Worte konnte er sehr wohl falsch verstehen, das war ihr klar.
Er hob jedoch nur die Schultern und deutete aus der gleichen Bewegung ein Nicken an. Vielleicht war er es einfach müde, mit ihr zu streiten. »Dann gehen wir ein Stück«, sagte er in einem Ton, als wäre es sein Vorschlag gewesen. Ohne Robins Antwort abzuwarten, ging er an ihr vorbei und ein paar Schritte weit so schnell voraus, dass sie beinahe rennen musste, um ihn wieder einzuholen. Als sie zu ihm aufgeschlossen hatte, ging er wieder langsamer und sah fast ein bisschen verlegen aus.
»Morgen ist der Tag, auf den wir schon so lange warten«, sagte Rother, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren.
Robin sah ihn fragend an.
»Ich habe vorhin ein Gespräch zwischen Odo und Gerhard von Ridefort mit anhören können«, erklärte Rother. »Die Späher sind zurück. Wir werden spätestens morgen Abend auf Faruks Heer treffen. Vielleicht schon eher.«
In seiner Stimme schwang ein vollkommen unangemessener Unterton von Begeisterung mit, fand Robin. »Du klingst, als ob du dich darauf freust.«
»Du nicht?« Rother klang ehrlich verwundert.
Robin überlegte sich ihre Antwort sehr genau. »Morgen werden viele gute Männer sterben.«
»Wenn es Gottes Wille ist.« Rother schien sogar selbst zu merken, wie sich seine Worte anhören mussten, denn er rettete sich in ein verlegenes Schulterzucken und senkte den Blick, während er mit langsamen Schritten neben ihr herging. »Ja, du hast Recht. Viele gute Männer werden morgen sterben. Vielleicht auch ich.« Er warf ihr einen fast scheuen Seitenblick zu. »Vielleicht auch du.«
»Vielleicht«, sagte Robin einsilbig.
»Hast du Angst?«, fragte Rother.
»Zu sterben?« Robin dachte einen Moment lang ernsthaft über diese Frage nach und nickte schließlich. »Ja. Du nicht?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Rother. Er schürzte fast trotzig die Lippen. »Ja, du hast Recht. Es werden eine Menge guter Männer sterben. Zu viele. Aber sie werden nicht umsonst sterben. Wenn die Sonne das nächste Mal aufgeht, gehört das Heilige Land endgültig uns.«
»Wie meinst du das?«
»Wir werden die Schlacht gewinnen«, sagte Rother überzeugt.
»Saladin hätte seine Armee niemals teilen dürfen. Selbst seinem ganzen Heer wären wir überlegen - seine halbierte Armee ist kein Gegner für uns!«
»Bruder Horace schien mir da anderer Meinung zu sein«, sagte Robin.
Rother machte ein abfälliges Geräusch. »Bruder Horace ist ein alter Mann. Vielleicht einer unserer besten, aber dennoch ein alter Mann, dem es an Zuversicht und Gottvertrauen mangelt.«
Robin schluckte die Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Vielleicht hatte Rother ja sogar Recht. »Immerhin sind uns selbst Faruks Truppen zahlenmäßig überlegen«, gab sie zu bedenken.
»Saladins Neffe!« Rother spie das Wort aus wie eine Obszönität. »Ein Kuhhirte! Seine Heldentaten bestehen aus Überfällen auf wehrlose Frauen und Kinder und alte Männer. Selbst die Plünderer, auf die wir vor zwei Tagen gestoßen sind, lachen über ihn.«
»Du meinst die Männer, die uns alle beinahe getötet hätten?«, fragte sie sanft.
Rother wurde wütend. Er blieb mit einer abrupten Bewegung stehen, ergriff sie grob an der Schulter und machte mit der anderen Hand eine ausholende, fast wütend-deutende Geste in die Runde. »Sieh dich doch um! Sieh dir diese Männer an! Glaubst du wirklich, Saladins Schafhirten und Kameltreiber wären diesem Heer gewachsen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem heftigen Kopfschütteln. »Das hier ist die Faust Gottes, Bruder Robin! Sie wird die Heiden zerschmettern!«
Und das glaubst du wirklich?, dachte Robin traurig. Sie warf nur einen einzigen Blick in Rothers Augen und beantwortete ihre eigene Frage selbst, ja. Er glaubte es.
Ihre zweifelnden Blicke blieben Rother nicht verborgen. Mit einer fast wütenden Bewegung ergriff er sie abermals am Arm, zerrte sie grob herum und deutete heftig gestikulierend mit der freien Hand auf einen Hügel nur ein Dutzend Schritte entfernt am Rande des Lagers. Bevor das Heer gekommen war, hatte es dort Gras und einiges kärgliche Buschwerk gegeben; jetzt war es zertrampelt, und der Wind trug die dünne Krume in Form von wehenden graubraunen Staubwolken davon. Der Anblick stimmte Robin traurig. In diesem sonderbaren, verbrannten Land war jedes Stück fruchtbarer Boden kostbar, jede Pflanze, die sie zu Hause achtlos zertreten hätte, ein unersetzlicher Schatz. Unzählige Jahre musste die Natur gebraucht haben, der Wüste dieses kleine Stück Grün abzutrotzen, und sie hatten nur wenige Augenblicke benötigt, das Werk von Jahrhunderten zu zerstören. Und es war nicht nur dieser Hügel. Das Heer hatte eine breite Spur der Verwüstung durch das Land gezogen, die seinen Weg vielleicht noch eine Generation später markieren würde. Obwohl es eigentlich gar nicht ihre Art war, solcherlei Gedanken zu denken, machten sie Robin traurig und wütend zugleich.