Es war jedoch nicht dieser Anblick gedankenloser Zerstörung, den Rother ihr hatte zeigen wollen. Robin glaubte nicht, dass er jemals auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte. Seine ausgestreckte Hand deutete auf einen in eine schlichte, in der Dämmerung schwarz erscheinende Kutte gekleideten Geistlichen, der hoch aufgerichtet auf dem höchsten Punkt des flachen Hügels stand und eine flammende Predigt hielt. Sie waren zu weit entfernt und der Lärm des Lagers ringsum zu laut, als dass Robin die Worte hätte verstehen können, aber das musste sie auch nicht. Der Ausdruck heiligen Zorns auf dem Gesicht des Predigers und seine ausgreifenden, fordernden Gesten verrieten ihr auch so, welcher Art die Predigt war, die er einem guten Dutzend prachtvoll gekleideter Ritter hielt, die im Halbkreis am Fuße des Hügels knieten und ihm mit verzückten Gesichtern lauschten. »Siehst du diese Männer?«, fragte Rother. Auch er schrie fast.
Robin nickte.
»Es sind die edelsten der Edlen«, fuhr Rother erregt fort. »Aber siehst du auch ihre Füße? Weißt du, warum sie die Stiefel ausgezogen haben und barfuss beten?«
Robin sah genauer hin. Rother hatte Recht - die Männer hatten ihr Schuhwerk ausgezogen und knieten barfuss im warmen Sand. Sie nickte und schüttelte praktisch in der gleichen Bewegung den Kopf.
»Weil Gottesfurcht und das Vertrauen in seine Führung die schärfste Waffe im Kampf gegen die Heiden sind!«, antwortete Rother. »Du kennst die Geschichte vom Kampf der barfüßigen Ritter um Jerusalem!«
Robin schüttelte abermals den Kopf, was Rother zu einem neuerlichen, ebenso überraschten wie fast verärgerten Stirnrunzeln veranlasste. Offensichtlich hatte er vorausgesetzt, dass sie wusste, wovon er sprach. »Es ist fast hundert Jahre her«, sagte er.
»Gottes Krieger hatten Jerusalem schon lange und vergebens belagert. Am Abend vor dem letzten Sturm befahl ihr Heerführer ihnen, barfuss und mit unbedeckten Häuptern betend um die Stadtmauern zu ziehen, während sie von ihren Feinden auf den Wällen verspottet und mit Unrat und Abfällen beworfen wurden. Doch am Tag darauf ist mit Gottes Hilfe und gegen jede vernünftige Chance der Sturmangriff auf Jerusalem geglückt, und die Heiden wurden aus der Stadt des Herrn verjagt!«
»Aha.« Robin machte sich mit sanfter Gewalt aus Rothers Griff los und sah ihn fragend an. »Und? Willst du mir damit sagen, dass wir Faruks Truppen morgen barfüßig gegenübertreten sollen?«
Sie bedauerte die Worte augenblicklich, aber das war etwas, woran sie sich in Rothers Gegenwart allmählich zu gewöhnen begann. Anscheinend war es ihr Schicksal, dem jungen Tempelritter gegenüber mit untrüglicher Sicherheit immer den falschen Ton anzuschlagen.
Fast zu ihrem Erstaunen blieb Rother jedoch ruhig. »Nein«, sagte er. »Ich will damit sagen, dass es nicht die Anzahl der Krieger ist, die über den Ausgang einer Schlacht entscheidet. Es ist allein Gottes Wille. Wenn ihm unser Tun gefällig ist, dann wird er uns den Sieg schenken.«
»Und wenn nicht?«, fragte Robin.
»Dann haben wir es wohl nicht anders verdient«, antwortete Rother ernst. Dann lächelte er. »Aber wir werden siegen. Ich sage nicht, dass es leicht sein wird, aber der Sieg ist uns gewiss. Gott will es.«
Das Schlimme war, dachte Robin traurig, dass er das wirklich glaubte. Es hätte so vieles gegeben, was sie darauf hätte erwidern können, aber sie sprach nichts von alledem aus. Es wäre sinnlos gewesen. Rother konnte sie nicht verstehen, und sie wollte ihn nicht noch mehr verletzen, als sie es ohnehin schon getan hatte.
Sie wurde einfach nicht schlau aus diesem jungen Ritter. Von allen Männern in Dariusz’ Begleitung war er der einzige, zu dem sie so etwas wie Zutrauen gefasst hatte, und sie spürte auch, dass es Rother umgekehrt ganz genau so erging, und dennoch gelang es ihr nicht, wirklich zu ihm durchzudringen. Hinter seinem freundlichen Lächeln und seinem scheinbar so zugänglichen Wesen verbarg sich etwas, von dem sie nicht wusste, ob es Angst oder vielleicht etwas ganz anderes war.
»Vielleicht ... hast du Recht«, sagte sie ausweichend. »Es ist spät. Wir sollten schlafen. Morgen wird ein sehr anstrengender Tag.«
»Ein sehr wichtiger Tag«, verbesserte sie Rother. Wollte er ihr ein Gespräch aufzwingen?
»Ja, das sicher auch«, antwortete sie mit einem Achselzucken. Sie hatte nicht einmal die Unwahrheit gesagt - sie war müde. Auf jeden Fall zu müde, um sich mit Rother auf ein theologisches Streitgespräch einzulassen. Und schon gar nicht durfte sie sich dazu verführen lassen, ihm mit einem unbedachten Wort zu verstehen zu geben, dass sie beinahe mehr an Salim als an die morgige Schlacht dachte.
»Dann begleite ich dich zu deinem Zelt«, sagte er. »Bevor du dich am Ende tatsächlich noch verläufst.«
Robin seufzte resignierend. »Ich kann dich ja wahrscheinlich sowieso nicht davon abhalten.«
»Das Lager ist groß«, sagte Rother anstelle einer direkten Antwort.
»Und Bruder Dariusz’ Arm reicht weit«, fügte Robin hinzu.
»Was hat er dir angedroht, für den Fall, dass du mich nicht jede Minute des Tages im Auge behältst?«
»Bruder Dariusz hat nichts damit zu tun«, antwortete Rother ernst. Robin hatte damit gerechnet, dass er wütend werden oder auch wieder verletzt reagieren würde, aber er blieb ganz ruhig.
»Ich bin kein Spion wie deine Freunde, die Assassinen.«
Robin beschloss, den letzten Teil seiner Antwort zu ignorieren.
»Den Eindruck hatte ich gestern nicht.«
»Bruder Dariusz hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass du sicher in Safet ankommst. Seine anderen Anweisungen habe ich wohl nicht ganz richtig verstanden«, antwortete Rother.
Robin spürte, dass er es ehrlich mit ihr meinte. »Warum läufst du mir dann ständig nach?«, fragte sie dennoch.
»Das tue ich nicht«, behauptete Rother, nur, um praktisch im gleichen Atemzug hinzuzufügen: »Ich mache mir Sorgen um dich, Bruder Robin. Etwas stimmt nicht mit dir. Du verbirgst ein Geheimnis.«
Sah man es ihr so deutlich an?, fragte sich Robin erschrocken, nur um sich ihre eigene Frage gleich selbst zu beantworten. Selbstverständlich sah man es ihr an. Im Grunde war es schon fast ein Wunder, dass es nicht auch alle anderen längst gemerkt hatten.
Aber vielleicht hatten sie es ja, und Rother war nur der Einzige, der ehrlich - oder dumm - genug war, sie ganz offen darauf anzusprechen.
»Das Wesen eines Geheimnisses ist es, Rother«, sagte sie, »dass es nur so lange eines bleibt, wie man nicht darüber spricht.«
»Und das Wesen unserer Gemeinschaft ist es«, antwortete Rother, »dass wir keine Geheimnisse voreinander haben.«
»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich ein Geheimnis hätte«, sagte Robin. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du das gesagt.«
Rothers Miene verfinsterte sich. »Du hast eine flinke Zunge, Bruder Robin. Aber das ändert nichts daran, dass du etwas vor uns verbirgst.«
»Dann nehme ich an, dass du mich doch nicht zu meinem Zelt zurückbegleiten willst«, vermutete Robin kühl. Rother starrte sie noch einen Herzschlag lang beinahe wütend an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte mit wehendem Mantel davon. Robin sah ihm kopfschüttelnd nach - und mit einem heftigen Gefühl von schlechtem Gewissen. Auch wenn Rother sie mit jedem Moment mehr verwirrte, so spürte sie doch zugleich auch, dass er es gut mit ihr meinte. Aber vielleicht war gerade das das Problem. Bruder Abbé hatte vor langer Zeit einmal zu ihr gesagt, dass es kaum etwas Schlimmeres gäbe als Menschen, die es gut mit einem meinen, aber sie begann erst jetzt allmählich zu begreifen, was er wirklich damit hatte ausdrücken wollen.
Sie schüttelte den Gedanken ab und sah sich rasch und fast verstohlen nach beiden Seiten um. Ihr kleiner Disput mit Rother war nicht unbemerkt geblieben. Hier und da war ein Gespräch unterbrochen worden, ein Gesicht in ihre Richtung gedreht oder eine Stirn gerunzelt worden, und sie bemerkte sehr wohl die schadenfrohen Blicke, auch wenn die meisten Männer rasch die Köpfe senkten, sobald sie in ihre Richtung sah. So viel zu ihrem Vorsatz, nicht aufzufallen. Sie war sicher, dass Horace auch von diesem Zwischenfall Kenntnis erlangen würde.