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Mit einem resignierenden Seufzer schob sie auch diesen Gedanken von sich und setzte ihren Weg fort. Ziellos wanderte sie weiter durch das Lager. Sie hatte ihr Zelt nicht nur verlassen, um sich umzusehen oder sich lediglich die Zeit zu vertreiben. Genau genommen hielt sie nach Bruder Abbé Ausschau. Den ganzen Tag über hatte sie insgeheim unter den Tempelrittern nach ihm gesucht, ohne ihn allerdings zu entdecken, und mehr als einmal waren ihr Zweifel gekommen, ob sie ihn am vergangenen Abend wirklich gesehen hatte oder vielleicht nur einer Täuschung aufgesessen war, die ihren Ursprung einfach in dem Wunsch gehabt hatte, ihn zu treffen.

Zugleich war sie sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Sie hatte das Gesicht unter der Kapuze nur für den Bruchteil eines Atemzuges aufblitzen sehen, und nicht einmal deutlich, aber wer Bruder Abbé einmal zu Gesicht bekommen hatte, der vergaß ihn nicht. Und diese sonderbare Nachricht ... sie kannte diese Handschrift, auch wenn ihr ihre Bedeutung noch immer nicht gänzlich klar war. Eine freundliche Warnung von Abbé oder Horace? Eine Drohung von Feinden innerhalb des Templerordens? Auch das war möglich, aber wenn - von wem?

Sie dachte an die merkwürdigen Anspielungen des Großmeisters, dass sie auf Masyaf, der Festung des Alten vom Berge, Ehrengast bei einer Hochzeit gewesen war, was stimmte. Und sie konnte nur hoffen, dass Odo nicht wusste, dass es sich dabei um ihre eigene Hochzeit gehandelt hatte ...

Und sie dachte erneut an Salim, und dieser Gedanke wurde von einem dünnen, tief gehenden Schmerz begleitet, der sich wie ein glühender Dolch in ihr Herz bohrte. Wie sehr sie ihn vermisste!

In den letzten Tagen war es ihr immer wieder gelungen, ihn für eine kurze Zeit aus ihren Gedanken zu verbannen. Oh, sie hatte an ihn gedacht - immer wieder hatte es seit jenem schicksalhaften Moment in dem kleinen Dorf am Ufer des Mittelmeeres Momente gegeben, in denen sie an ihn gedacht, sein Gesicht vor sich gesehen oder sich nach dem sanften Klang seiner Stimme zurückgesehnt hatte. Dennoch war es ihr gelungen, es bei einer bloßen Erinnerung zu belassen; Bilder und Geräusche, voller Schmerz und Wehmut, aber dennoch bloße Erinnerungen. Sie hatte den Schmerz und das Gefühl, etwas unbeschreiblich Wertvolles verloren zu haben, bis zu diesem Abend nicht wirklich an ihr Herz herangelassen. Nun aber wurde ihr klar, dass diese vermeintliche Härte sich selbst gegenüber nichts anderes als ein Schutz gewesen war. Und dass diese letzte Mauer, die sie um ihr Herz errichtet hatte, zunehmend zu bröckeln begann. Die Männer, auf die Rother und sie in der Wüste getroffen waren, als sie sich auf dem Ritt nach Safet befanden, hatten gesagt, Salim erwartete sie in seinem Zelt ganz in der Nähe der Kreuzfahrerburg. Doch sie hatte nirgends ein Assassinenzelt entdecken können, und sie hatte es nicht gewagt, danach zu fragen. Morgen, dachte sie matt. Spätestens morgen, wenn sich die unterschiedlichen Heere trafen und miteinander vereinigten, würde sie Salim wiedersehen. Und dann ...

Nein. Robin gestattete sich nicht, diesen Gedanken weiterzudenken. Sie wusste einfach nicht, was geschehen würde. Sie wusste, was sie tun wollte, aber sie war ganz und gar nicht sicher, was sie wirklich tun würde.

Ohne dass sie es selbst gemerkt hätte, hatten sie ihre Schritte immer weiter ins Zentrum des Heerlagers geführt. Die Nacht war längst hereingebrochen, doch es brannten so viele Lagerfeuer, Kochstellen und Fackeln, dass es fast ebenso hell wie am Tage war. Die Luft war erfüllt vom beißenden Rauch des brennenden Holzes, dem Geruch nach gebratenem Fleisch und Fisch, dem Schweiß von Mensch und Tier, einem ganzen Chor der unterschiedlichsten Geräusche und Laute und dem roten Licht der Feuer. Nachdem die Sonne untergegangen war, hätte es deutlich kälter werden müssen, doch Robin hatte ganz im Gegenteil das Gefühl, dass die Hitze noch zugenommen hatte. Zusammen mit dem flackernden roten Feuerschein, dem Lärm, dem Lachen und Rufen aus unzähligen, rauen Kehlen, dem Wiehern der Pferde und dem Klirren von Metall und Fetzen misstönender Musik, die manchmal an ihr Ohr drangen, hatte die Szene für sie plötzlich etwas infernalisches.

Wenn man bedachte, was diesen Männern am nächsten Tag bevorstand, dann waren diese Augenblicke vielleicht die letzten Momente des Friedens, die viele von ihnen erleben mochten, doch die allgemeine Stimmung schien Robin nun auch jeden Rest von Ängstlichkeit und stiller Andacht verloren zu haben. Sie wirkte ganz im Gegenteil beinahe schon aufgekratzt; und dennoch hatte sie plötzlich das unheimliche Gefühl, durch den Vorhof der Hölle zu schreiten. Und zumindest einen Moment lang kam es ihr tatsächlich so vor, als wäre diese Vision weit mehr als ein Trugbild, mit dem sie ihre eigenen Nerven narrten. Direkt vor ihr, vielleicht noch ein Dutzend Schritte oder weniger entfernt, erhob sich ein gewaltiges, rundes Zelt von blutroter Farbe. Ein gutes Dutzend vermummter, schwarz gekleideter Gestalten, die so reglos wie lebensgroße unheimliche Statuen dastanden, umgab dieses Zelt und schien allein durch seine Anwesenheit dafür zu sorgen, dass es niemand wagte, sich ihm weiter als bis auf ein Dutzend Schritte zu nähern, und selbst das allgemeine Lachen und Musizieren und Lärmen schien in der unmittelbaren Umgebung leiser zu klingen.

Auch Robin stockte ganz instinktiv im Schritt. Doch fast im selben Moment wurde ihr klar, dass an diesem Zelt rein gar nichts Mystisches oder gar Teuflisches war, ebenso wenig wie an dem Dutzend Ritter, die es bewachten. Sie hätte das Wappen über dem Eingang nicht einmal mehr sehen müssen, um zu wissen, dass es das Zelt König Balduins war, dessen rote Farbe nur von den zahllosen flackernden Feuern ringsum zu vermeintlichem Leben erweckt wurde, und die scheinbaren Dämonen, die es bewachten, niemand anderes als die Ritter des geheimnis-umwitterten Lazarusordens - obwohl sie sich bei ihnen ganz und gar nicht sicher war, ob es sich tatsächlich noch um Menschen handelte. Jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem sie das Wort bisher benutzt hatte.

Robin näherte sich mit klopfendem Herzen dem Zelt und blieb dann endgültig stehen. Es war nicht ausdrücklich verboten, dem König nahe zu kommen, aber sie wusste natürlich, dass niemand es wagte, sich ihm ohne seine ausgesprochene Einladung oder Erlaubnis zu nähern oder ihn gar anzusprechen. Es hätte auch keinen Grund für sie gegeben, so etwas zu tun; ganz im Gegenteil - schon am vergangenen Morgen hatte sie der Anblick des kränklichen, geschlagenen Königs erschreckt, und obwohl sie sein Gesicht noch nie gesehen hatte, jagte ihr schon der bloße Gedanke, einen Blick hinter seinen Schleier zu werfen, einen eisigen Schauer über den Rücken.

Sie wollte sich gerade umdrehen und möglichst unauffällig wieder davongehen, als der undeutliche Klang erhobener Stimmen aus dem Zelt zu ihr herausdrang. Sie konnte weder hören, was gesprochen wurde, noch erkannte sie eine dieser Stimmen, aber ihr Tonfall war scharf, zum Teil regelrecht wütend, sodass sich Robin in ihrem Entschluss nur bestärkt sah, möglichst ebenso schnell wieder von hier zu verschwinden, wie sie gekommen war. Vermutlich waren etliche der Lazarusritter ohnehin schon auf sie aufmerksam geworden, und sie konnte nur hoffen, dass die Männer ihr Gesicht in dem unsicheren Licht nicht zu deutlich erkannten oder sich vielleicht auch gar nicht die Mühe machten, es sich zu merken. Nach dem gestrigen Tag hatte sie wahrlich keine Lust, nach den Fragen des Großmeisters auch noch die des Königs beantworten zu müssen.

Gerade als sie sich umdrehte, wurde die Plane vor dem Eingang zum Zelt zurückgeschlagen, und Robin erschrak nun wirklich, als sie niemand anderen als Odo von Saint-Amand und den Ordensmarschall Gerhard von Ridefort herauskommen sah. Odos Gesicht war wie eine zu Stein erstarrte Maske des Zorns, und Ridefort gestikulierte aufgeregt mit beiden Händen, wobei er ununterbrochen weiter auf den Großmeister einredete. Es war nicht zu übersehen, dass beide außer sich vor Wut waren.